Kölner Serie „Spurensuche“Der Rekord-Kanzler Wilhelm Marx und seine Spuren in Köln

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Bei der Eröffnung der Kölner Messe 1924: Reichskanzler Wilhelm Marx, Reichspräsident Friedrich Ebert und der Kölner OB Konrad Adenauer. 

Bei der Eröffnung der Kölner Messe 1924: Reichskanzler Wilhelm Marx, Reichspräsident Friedrich Ebert und der Kölner OB Konrad Adenauer. 

  • Wo nächtigte Napoleon? Wo zauberte Houdini? In unserer Serie „Spurensuche“ stellen wir Personen und ihre Zeit in Köln vor.
  • Anselm Weyer schreibt, warum Wilhelm Marx in den unruhigen Zeiten der Weimarer Republik ein Mann der Beständigkeit war

Köln – Ein menschgewordener Vermittlungsausschuss sitze da im Kanzleramt, hieß es. Keine Spur von Charisma. „Auf der Reichstagstribüne hat man wohl nie einen Scherz von ihm gehört“, klagt die Rheinische Zeitung. Außerdem bringe er „seine meist kurze Ansprache in einem Tonfall vor, der an lederner Langeweile kaum zu überbieten ist“. Trotzdem war Wilhelm Marx Rekordkanzler in der politisch instabilen Zeit der Weimarer Republik.

Während sich in manchen Jahren die Kanzler in Berlin die Klinke in die Hand gaben, blieb Marx insgesamt drei Jahre und einen Monat, verteilt auf zwei Amtszeiten mit vier Kabinetten. Sein Vorgänger Gustav Stresemann hatte sich gerade einmal drei Monate im Amt gehalten.

Geboren wurde Marx am 15. Januar 1863 als Sohn von Johann Marx, dem Rektor der katholischen Volksschule des St.-Ursula-Bezirks. Dort hatte er auch seine Dienstwohnung: Auf dem Hunnenrücken 34, nahe der heutigen Nord-Süd-Fahrt im Zentrum. Marx besuchte das Dreikönigsgymnasium, damals noch in der Marzellenstraße, wo er 1881 Abitur machte. Anschließend studierte er an der Universität Bonn Jura. 1888 kam er als Referendar zurück nach Köln, wo er in der Ursulagartenstraße 27 wohnte.

Nach Stationen unter anderem in Elberfeld zog er 1904 in die dritte Etage der Spichernstraße 6 seiner Heimatstadt. Bis zum Oberlandesgerichtsrat hatte er es gebracht, als es ihn 1907 nach Düsseldorf verschlug. Am gleichen Tag, an dem er 1921 Senatspräsident am Kammergericht Berlin wurde, wurde er auch Vorsitzender der Zentrumsfraktion des Reichstags.

Bereits 1899 war er Landtagsabgeordneter im Preußischen Landtag geworden, 1920 Reichstagsabgeordneter. 1922 schließlich wurde er Vorsitzender der konservativen Zentrumspartei. Die Anfänge dieser politischen Karriere waren in den protestantisch geprägten Jahren des Kaiserreichs keine Selbstverständlichkeit, war der Rheinländer doch zutiefst katholisch. Gegner spotteten darüber, dass er vor schweren Entscheidungen frühmorgens in der Kirche den Beistand Gottes erflehte.

Eher widerwillig hat der 60 Jahre alte Wilhelm Marx im November 1923 erstmals das Amt des Reichskanzlers übernommen. Er sei, so berichtete ein Zentrumspolitiker, zum Kanzlerstuhle gegangen, wie der Gerichtete zum Schafott. Wer will es ihm verdenken? Die Lage Deutschlands schien fast aussichtslos. Der Staat war pleite. Das Ruhrgebiet war immer noch von belgischen und französischen Truppen besetzt. Die Inflation war ins Unermessliche gestiegen. Überall in Deutschland revolutionäre Tendenzen und Aufstände.

Und da sollte der stille Wilhelm Marx mit seinem Minderheitskabinett Abhilfe schaffen? Als „Mann in altertümlichem, schwarzen Gehrock mit einem bebrillten katholischen Pastorengesicht, dogmatische Strenge im Ausdruck“ beschreibt ihn die links orientierte Rheinische Zeitung anlässlich seines Amtsantritts. „Ein freundlich blinkender Zelluloidkragen verstärkt den Eindruck charaktervoller Beständigkeit.“ Aber auch dieses Publikationsorgan des politischen Gegners wusste, dass unter der Oberfläche mehr schlummerte. In der Öffentlichkeit tue er sich nicht als großer Redner hervor, aber im kleinen Kreis entpuppe sich, dass der Reichskanzler „beinahe noch mehr kölsche Krätzchen als juristische Paragraphen“ kenne. Berühmt war vor allem sein parteiübergreifendes Verhandlungsgeschick.

Marx vollbrachte das „Wunder der Rentenmark“

Gemeinsam mit Finanzminister Hans Luther sorgte Marx in Weiterführung von Plänen seines Vorgängers Stresemann 1924 für das „Wunder der Rentenmark“. Durch diese durch Grund und Boden gedeckte Währungsreform wurde der Hyperinflation ein Ende bereitet. Parallel setzte Marx auf Sparmaßnahmen im Haushalt, kombiniert mit neuen Steuern. Trotz kritischer Stimmen stabilisierte sich die Lage letztlich. Ende Februar 1924 konnte Marx den militärischen Ausnahmezustand beenden.

Nötig war aber auch die Aussöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern, allen voran Frankreich und Großbritannien. Ihnen schuldete Deutschland wegen des verlorenen Weltkriegs laut Vertrag von Versailles immense Reparationszahlungen. Auf einer Konferenz im Juli 1924 in London gelang es Reichsaußenminister Gustav Stresemann sowie Kanzler Marx mit seiner ruhigen, sachlichen Art, in zähen Verhandlungen, Deutschland ein Stück weit aus der außenpolitischen Isolation herauszuführen. Marx entlockt dem französischen Ministerpräsidenten Édouard Herriot sogar die Zusage, besetzte deutsche Gebiete zu räumen. Ein zeitgenössischer Beobachter berichtete, dass „aus dem im Ausland jener Tage wenig bekannten Zentrumsführer zwar kein Diplomat, aber ein international anerkannter und geachteter Staatsmann geworden“ sei. Marx blieb bescheiden. „Mein Kölner Wesen war Grund des Vertrauens“, meinte er lapidar. Trotz aller Erfolge endete seine Kanzlerschaft im Januar 1925.

Wilhelm Marx sollte einen Rechtsruck verhindern

Einen Monat später, im Februar 1925, starb Reichspräsident Friedrich Ebert. Um einen Rechtsruck zu verhindern, einigten sich die Parteien des sogenannten Volksblocks, SPD, DDP und Zentrum, auf einen Kandidaten: Wilhelm Marx. Bei den Wahlen im April 1925 erhielt er 45,3 Prozent. Der Kandidat des Reichsblocks jedoch, Paul von Hindenburg, kam auf 48,3 Prozent. Marx verlor, weil der bayerische Ableger des katholischen Zentrums, die Bayerische Volkspartei, gegen ihn und für den Protestanten, Monarchisten und Antirepublikaner Hindenburg gestimmt hatten. Das Ausland war entsetzt. Hatte nicht Hindenburg noch vor kurzem auf der Liste der Kriegsverbrecher gestanden hatte, die laut Versailler Vertrag ausgeliefert werden sollten?

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In seiner ersten Amtszeit hielt sich Hindenburg noch an die Verfassung. Von 1926 bis 1928 machte er Marx sogar nochmals zum Reichskanzler. Dieser nutzte seine Amtszeit, um Deutschland in den Völkerbund eintreten zu lassen. Wie ein letztes Aufbäumen der Demokratie wirkte es, als Marx den Befehlshaber der Reichswehr, Hans von Seeckt, wegen antirepublikanischer Umtriebe absetzte. 1933 jedoch ernannte Hindenburg Hitler zum Kanzler. Wilhelm Marx, über 70 Jahre alt, zog sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Er starb am 5. August 1946 in seiner Wohnung in der Reuterstraße 115 in Bonn. Beerdigt wurde er auf dem Melatenfriedhof.

Anselm Weyer (45) ist promovierter Germanist, schreibt Architekturführer und beschäftigt sich vielfältig mit Kölner Stadtgeschichte.

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