Kölner über seinen Einsatz bei Loveparade„Vieles davon beschäftigt mich bis heute“

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Loveparade

Tausende Raver drängen sich auf der Loveparade in und vor dem Tunnel in Duisburg, in dem sich eine Massenpanik ereignet hat.

Zwölf Jahre nach der Loveparade-Katastrophe in Duisburg  mit 21 Toten findet am 9. Juli in Berlin erstmals wieder eine große Techno-Parade statt.   Michael Fuchs sprach mit   Ex-Feuerwehrmann Lothar Schneid (64), der  2010 als Einsatzleiter   an der  Unglücksstelle war.

Was löst es in Ihnen aus, wenn Sie hören, dass wieder eine Loveparade stattfindet, wenn auch unter anderem Namen?

Ich persönlich habe kein Verständnis dafür. Angesichts des Unglücks von 2010 ist es für mich nicht nachvollziehbar, dass man wieder so ein Massenevent veranstaltet. Nach zwei Jahren Pandemie heißt es zwar immer: Die Leute müssen mal feiern. Aber das müssen nicht Zigtausende in einer Stadt sein. Das ist mir zu gigantisch. Ich bin aber nicht grundsätzlich gegen große Veranstaltungen. Rock am Ring auf freiem Feld hat gut funktioniert.

Der Verzicht auf weitere Paraden seit 2010 geschah auch aus Respekt vor den Todesopfern. Ist die Schamfrist vorbei?

Ich denke, Schamfrist trifft es ganz gut. Man hat den Prozess abgewartet, danach kam Corona, aber jetzt geht man zur Tagesordnung über und sagt: Wir können wieder so eine Veranstaltung machen. Obwohl, man muss fair sein: Berlin hat es immer gut hinbekommen.

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Zur Person

„Es gibt nichts, was es nicht gibt.“ Das ist für Lothar Schneid (64, Foto) das Fazit aus 41 Jahren bei der Berufsfeuerwehr Köln. Der Ende 2017 pensionierte Feuerwehrmann hat seine Erlebnisse in zwei Büchern verarbeitet. Darin gibt er einen authentischen Einblick in den Alltag der Retter. Ungeschminkt und sehr persönlich schildert er Momente, die unter die Haut gehen. Schneid stammt aus Köln und lebt in Rösrath. (fu)

Parade 2022 „Rave the planet“ in Berlin

Loveparade-Gründer Dr. Motte will mit einer Musikparade am 9. Juli in Berlin ein neues Techno-Spektakel auf die Straße bringen. „Wir erzählen die Geschichte des Spirits der Loveparade weiter“, sagte der 61-Jährige gestern in Berlin. „Wir demonstrieren, wie wir uns unser Leben vorstellen.“

Bei der Parade mit dem Namen „Rave The Planet“ rechnen die Veranstalter mit 25 000 Menschen auf den Straßen, es könnten aber mehr werden, hieß es. 150 Künstler sowie 18 Musikwagen („Floats“) werden erwartet. Die geplante Route führt vom Kurfürstendamm, Potsdamer Platz und Brandenburger Tor in Richtung Siegessäule. Die Parade versteht sich als politische Demonstration mit einem Katalog von Forderungen. „Das wird ein freudiger Event werden, in dem wir mit den Behörden abgestimmte Sicherheitskonzepte umsetzen werden“, so Dr. Motte. (dpa)

Das Unglück 2010

183 Tage verhandelte das Landgericht Duisburg im Strafprozess zur Aufarbeitung der Loveparade-Katastrophe mit 21 Toten und 652 Verletzten. Das Verfahren wurde am 4. Mai 2020 eingestellt, die Kosten trug die Staatskasse. Laut Gericht war das Gelände nicht geeignet, dies wurde bei der Planung und Genehmigung nicht erkannt. Das Gericht sah aber die individuelle Schuld der zehn Angeklagten des Veranstalters Lopavent und der Stadt Duisburg nach fast zehn Jahren Prozessdauer als gering an. (fu)

Denken Sie heute noch über den Einsatz in Duisburg nach?

Es gibt viele Dinge, die mich bis heute beschäftigen. Das fängt mit den Vorbesprechungen in Duisburg an. Die Feuerwehr Köln war zur Unterstützung der Duisburger Kollegen eingebunden und bereits im Vorfeld dabei. Wir haben damals sofort gesagt: In dieser Form würde das in Köln niemals genehmigt. Dass Zulauf und Ablauf von Menschenmengen von beiden Seiten durch einen Tunnel erfolgen, hätten Feuerwehr, Ordnungsamt und städtische Planer in Köln definitiv abgelehnt. Auf der Basis unserer Erfahrungen mit Großveranstaltungen wie Karneval oder Kölner Lichter wussten wir: Das geht nicht.

Haben Sie in Duisburg vor dem Tunnel gewarnt?

Ich habe meine Bedenken geäußert und bekam zur Antwort, die Berechnungen des Veranstalters zu den Besucherströmen seien stimmig. Und dann gab es die nicht protokollierte Aussage eines Feuerwehrkollegen aus Duisburg, der schulterzuckend zu mir sagte: „Aber der Oberbürgermeister will das haben.“

Vor Gericht wurden weder OB Adolf Sauerland noch andere Beteiligte zur Verantwortung gezogen, das Verfahren wurde am 4. Mai 2020 eingestellt.

Ich bin kein Jurist, aber dieses Urteil kann ich beim besten Willen nicht verstehen. Das war für mich Schmierentheater. Unterm Strich steht: Es ist zu einem fürchterlichen Unglück gekommen, und niemand ist dafür verantwortlich. Das sehe ich vollkommen anders. Man hätte die Leute nicht durch diesen Tunnel schicken dürfen, dann wäre so ein Unglück nicht passiert. Das ganze Areal hätte anders geplant werden müssen.

Loveparade

Kurz vor dem Unglück bei der Loveparade am 24.07.2010 stehen Menschen dicht gedrängt an einem Tunnelausgang.

Wie haben Sie den Unglückstag erlebt?

Ich hatte die Leitung auf dem Einsatzleitwagen im Abschnitt 12. Das war der Bereich, in dem das Unglück geschah. Schon mittags gibt es immense Probleme mit den Feiernden. Erwartungsgemäß sind sehr viel Alkohol und Drogen im Spiel. Die Leute sind enthemmt und kaum zu kontrollieren. An unserer Sammelstelle wird es immer voller. Ich muss die Einsatzkräfte per Lautsprecher auffordern, sich in ihre Fahrzeuge zurückzuziehen, um sich selbst zu schützen. Gegen 16 Uhr fordere ich starke Polizeikräfte zur Unterstützung an.

Um 16.44 Uhr überschlagen sich die Ereignisse...

Ein Rettungswagen meldet eine Massenpanik im Tunnel. In unserem Wagen läuft n-tv, der Sender steht zufällig mit einer Kamera genau an der Unglücksstelle. Wir sehen also live, was dort passiert. Es ist surreal. Ich weiß sofort, dass hier etwas geschieht, das eine ungeahnte Tragweite haben wird. Bald wird klar: Es ist schlimmer als befürchtet, es wird viele Tote und Verletzte geben. Die Menschen versuchen in Panik zu fliehen, wir werden an unserer Sammelstelle regelrecht überrannt.

Warum wurde die Gefahr so unterschätzt?

Man kann so eine Massenveranstaltung nicht vom Büro aus planen. Was in der Theorie am grünen Tisch angeblich funktioniert, erweist sich in der Praxis oft als untauglich. Man muss mit Leuten sprechen, die sich mit so etwas auskennen und beurteilen können, wie sich Menschen bei so einem Event verhalten. Das Wissen um die Gefahren gibt es seit Jahrzehnten, aber die Bedenken von Fachleuten wurden nicht ernst genommen. Vielleicht, weil man dieses Event in Duisburg zu sehr wollte.

Sie haben mit Ihrem Team 334 Retter koordiniert. Waren Sie selbst am Tunnel?

Über viele Stunden habe ich einfach funktioniert, ohne groß nachzudenken. Am Abend bin ich zur Unglücksstelle gegangen. Da lagen die Toten abgedeckt unter Planen. Ich bin dort hingegangen mit der Prämisse: Du musst das jetzt auf dich wirken lassen. Ein Außenstehender kann das wahrscheinlich nicht verstehen. Man spricht heute von 652 Verletzten, aber es waren auch mindestens so viele Rettungskräfte betroffen. Menschen, die versucht haben, da rein zu gehen und andere zu retten, zu reanimieren. Da waren viele Ehrenamtler dabei. Ich weiß persönlich von vielen, die danach nicht mehr für den Rettungsdienst arbeiten konnten. Die waren traumatisiert.

Hätte das Unglück verhindert werden können?

Anfangs habe ich mir viele Vorwürfe gemacht und gedacht: Du hättest in der Vorbesprechung aufstehen und das verhindern müssen mit dem Tunnel. Obwohl ich als Kollege aus Köln ja gar nicht in der Rolle war, dort etwas zu entscheiden. Doch ich habe es kommen sehen, dass es Probleme geben wird. Aber nicht in dieser Dimension.

Drohen sich solche Katastrophen zu wiederholen?

Das würde ich nicht ausschließen, weil die Leute heute teils noch enthemmter sind als früher. Das sieht man etwa daran, dass Angriffe auf Rettungskräfte zunehmen. Früher war so etwas tabu.

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