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LiliputZu Besuch in der Autofreien Siedlung in Nippes

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Seit gut zehn Jahren beginnt hier in Nippes die autofreie Zone – Pkw müssen draußen bleiben.

Seit gut zehn Jahren beginnt hier in Nippes die autofreie Zone – Pkw müssen draußen bleiben.

Nippes – Hinter den rot-weißen Pfählen geht sie richtig los, ab hier dürfen keine Autos mehr fahren. Stattdessen sieht man Fußgänger, Radfahrer, tobende Kinder und immer wieder Go-Karts. Teils beladen mit vier Kindern auf einmal, sind sie eine Art inoffizielles Wahrzeichen der Autofreien Siedlung in Nippes.

In Deutschland ist sie fast einmalig – nur in Freiburg, Münster und Hamburg gibt es vergleichbare Quartiere. Hinter Freiburg ist Nippes das zweitgrößte. Vor gut zehn Jahren, Ende 2006, haben die ersten Bewohner ihre Wohnungen bezogen. Heute wohnen hier auf 4,5 Hektar Fläche um die 1350 Bewohner, verteilt auf etwas mehr als 400 Haushalte. Davon dürfen nur 80 ein Auto haben, alle anderen sollten ohne leben.

Einer der Initiatoren der Siedlung ist Hans-Georg Kleinmann, der 1995 mit einem bürgerschaftlichen Aktionskreis begonnen hat, für eine solche Siedlung zu kämpfen. Elf Jahre später wurde der Bau begonnen, mittlerweile wohnt er selbst seit zehn Jahren in der Siedlung und gehört zum Vorstand des Vereins „Nachbarn60“. Die Aufgaben sind die Interessenvertretung nach außen, etwa der Stadt gegenüber, sowie praktische Lebenshilfe für die Bewohner, etwa indem Bollerwagen und Sackkarren verliehen werden. Auch die Go-Karts für die Kinder gehören dem Verein.

In der „Mobilitätsstation“, dem Hauptquartier des Vereins, sitzt Kleinmann bei offener Tür und schaut auf den Eingang seiner Siedlung, wo für Autos im Wendehammer am Ende der Werkstattstraße Endstation ist. Einiges habe ihn doch überrascht, sagt er rückblickend: „Vor allem, wie sehr das Auto doch immer noch Thema ist.“ Mittlerweile, sagt er, erwähne er manchmal gar nicht, dass er hier lebe. „Die meisten Autofahrer fangen dann sofort an, sich dafür zu rechtfertigen. Das wirkt ein wenig, als hätten sie ein schlechtes Gewissen.“ In der Siedlung selbst werde darüber kaum diskutiert. „Das ist besser angenommen worden, als ich dachte“, gibt der Vorkämpfer zu. Er wolle nicht in der Haut der Pizzaboten stecken, die sich gelegentlich mal erdreisten, in die Siedlung zu fahren. „Wenn die jungen Mütter so einen in die Finger bekommen, wird der ,gelyncht’“, sagt er lachend und nicht ohne Stolz darauf, wie gut sein Traum verfangen hat.

Dem 63-Jährigen ist anzumerken, dass er viel Erfahrung mit Kritik und Gegenwind hat. Mit sophistischer Eleganz findet er in allem noch ein Argument für die Siedlung, die er sich so lang erkämpft hat. So gab es lange Zeit Konflikte mit den Bewohnern um die Siedlung herum. Anfangs hatten die meisten der Autofreien nämlich sehr wohl einen Wagen, der mangels Stellplatz in der Umgegend, vor allem der Werkstattstraße, geparkt wurde. Seit 2014 sind jedoch überall Anwohnerparkplätze ausgezeichnet. „Seitdem ist es in der Hinsicht viel ruhiger geworden“, sagt Kleinmann.

Senioren bilden die Ausnahme

An der offenen Tür der Mobilitätsstation kommt eine Frau vorbei, sie ist Krankenschwester im St. Vinzenz Hospital und nutzt die Gelegenheit Kleinmann anzusprechen, da sie gern in die Siedlung ziehen würde. Sie wohne direkt an der Neusser Straße und wünsche sich nur noch Ruhe. Manchmal gehe sie in der Siedlung auch einfach spazieren, weil es hier so erholsam sei. Kleinmann verspricht, ihr die Adressen der großen Vermieter zukommen zu lassen. „Die Leute nutzen das hier sogar zur Naherholung“, sagt er stolz, um dann doch etwas tiefer zu stapeln: „Naja, übertrieben gesagt.“

Die Siedlung ist eng bebaut, da man keine Straßen für Autos brauchte, hat man einfach die Häuser näher aneinander gestellt. Das führt nicht dazu, dass die Mieten hier günstiger wären: Der Quadratmeterpreis zwischen zehn und zwölf Euro Kaltmiete liegt ziemlich genau auf dem Nippeser Durchschnitt. Darunter liegen GAG-Wohnungen mit Wohnberechtigungsschein.

Der Großteil der Mieter sei jüngeres Bildungsbürgertum, so charakterisiert Kleinmann die Nachbarschaft. „Viele junge Familien oder Paare mit Kinderwunsch ziehen hier her.“ Allerdings zögen die meisten auch wieder weg, wenn die Kinder etwas älter werden. Jugendliche trifft man kaum auf den Fußwegen zwischen den Wohnblocks. An Familien mit mehr oder älteren Kindern, die auch mehr Platz brauchen, sei bei der Planung nicht gedacht worden, sagt Kleinmann bedauernd. Dafür kämen dann wieder neue Familien, die kleine Kinder haben oder Babys bekommen wollen. Auch Senioren wie er bilden die Ausnahme.

Der Spitzname Liliput-Siedlung, mit dem das Quartier schon belegt wurde, trifft also in gewisser Hinsicht zu. Vor allem, wenn man an einem Sonntagmorgen zum einzigen Laden geht, um Brötchen zu holen, fällt es auf, dass man auf dem Fußweg nur von Kindern umgeben ist. Jungs mit blonden Locken, die den Einkaufszettel fest umklammert halten, im Schlepptau eine noch kleinere Schwester.

„Moderner Tante-Emma-Laden“

In der Schlange an der Brötchentheke überragt man dann als Erwachsener alle anderen. „Ja, so kann das schon mal aussehen“, sagt Markus Gassen lachend. Er hat den Kiosk 2011 eröffnet und ist seitdem zum festen Inventar der Siedlung geworden. Alle Dinge des unmittelbaren Bedarfs kann man bei ihm holen, von frischen Brötchen bis zu Bio-Kartoffelchips. Er selbst beschreibt den Laden als „modernen Tante-Emma-Laden“. Ein normaler Kiosk nur mit Zeitung, Zigaretten, Getränken hätte nicht zum Klientel gepasst. Im Moment spielt er sogar mit dem Gedanken, Produkte von der Bio-Marke „Alnatura“ ins Sortiment aufzunehmen – andernorts undenkbar. Es sei wie Dorfleben mitten in der Stadt, sagt Gassen und schaut dabei zufrieden auf den weiten Platz mit Birken vor seinem Laden. Er selbst wohnt direkt neben der Siedlung – und hat ebenfalls kein Auto.

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