Mitarbeiter in der ambulanten PflegeEinzelkämpfer zwischen Fürsorge und Zeitdruck

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Verbandswechsel gehören zur täglichen Arbeit von Pflegerin Linda – statt im Krankenhaus passiert alles in den vier Wänden der Kunden.

Verbandswechsel gehören zur täglichen Arbeit von Pflegerin Linda – statt im Krankenhaus passiert alles in den vier Wänden der Kunden.

Köln – Da, wo das Krankenbett steht, war früher mal das Büro. In Kartons stapeln sich Verbandsmaterial und Medikamente, noch mehr stehen im Wohnzimmer und Esszimmer. Seit einem Jahr kommt Linda in die Wohnung der 42-Jährigen in Bocklemünd. Der Krebs ist schon länger da. Ein Karzinom im Dünndarm.

Die Frau verschwindet fast im Bett, so schmal ist sie. Sie schiebt ihr Oberteilt hoch, damit Linda die Wunde am Bauch spülen und verbinden kann. Knapp unter dem Schlüsselbein führt ein Schlauch in ihren Körper. An den Portkatheter schließt Linda einen Tropf mit Elektrolyten an. In eine Mappe trägt sie ein, was sie alles gemacht hat. Nach 25 Minuten umarmen die Frauen sich: „Bis morgen“.

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Bei der Kölner Diakonie arbeiten 120 Mitarbeiter in der Ambulanten Pflege. Linda ist 57 Jahre alt, früher hat sie als Krankenschwester in einer Klinik gearbeitet. Gut ausgebildete Fachkräfte wie sie sucht die Diakonie händeringend.

Mitarbeiter sind an Belastungsgrenze angelangt

Denn der Bedarf steigt: Viele alte und kranke Menschen wollen so lange wie möglich zu Hause bleiben und dort gepflegt werden. Aber Pflegedienste müssen mittlerweile einen Großteil der Anfragen absagen. Die Mitarbeiter sind an der Belastungsgrenze und neue Bewerber gibt es kaum. Bis zu 30 Kunden – so werden die Patienten genannt – betreut Linda in einer Schicht im Bezirk „West“, mal im Früh- , mal im Spätdienst. Hinter jeder Wohnungstür wartet ein anderer Mensch, ein anderes Schicksal. Oft wartet dort auch Einsamkeit.

Ambulante Pflege

Bundesweit gibt es knapp 2,9 Millionen Pflegebedürftige (Dezember 2015). In Nordrhein-Westfalen gibt es rund 2600 ambulante Dienste, davon sind fast 67 Prozent in privater Trägerschaft. In Köln sind rund 160 mobile Pflegedienste im Einsatz.

Je nach Pflegegrad (1 bis 5) entlasten sie pflegende Angehörige, übernehmen aber auch die komplette Versorgung des Pflegebedürftigen. Dazu gehört auch hauswirtschaftliche und soziale Betreuung. Durch Beitragszahlungen zur Pflegeversicherung erwerben gesetzliche Versicherte einen Rechtsanspruch auf Hilfe, wenn sie pflegebedürftig werden. Die Kosten für ambulante Pflegeleistungen werden übernommen. Infos gibt es beim Bundesgesundheitsministerium. (wes)

pflegeleistungs-helfer.de

Linda guckt im Gehen auf ihr Handy. Eine Software zeigt an, wen ihr die Pflegeplanung als nächstes zugeteilt hat und wie viel Zeit sie dafür hat. Im Display stehen die Adresse und die Pflegeleistungen der nächsten Kundin. Ein paar Straßen weiter steigt Linda aus ihrem Auto. Sie klingelt, schließt dann selbst auf und ruft laut: „Guten Morgen!“ An ihrem Schlüsselbund sind mehrere Dutzend Schlüssel mit Nummern, jeder gehört zu einer anderen Wohnung. Die Kundin wartet schon auf das tägliche Programm: Tabletten stellen, Rücken waschen, Kompressionsstrümpfe anziehen, Kaffee kochen. Sie lacht, drückt Lindas Hand, erzählt ihr vom neuen Sofa. Einen Kaffee trinkt Linda nicht mit, sie muss weiter.

Zwischen Fürsorgepflicht und Wirtschaftlichkeit

Für jede Leistung ist eine bestimmte Zeit vorgesehen. Das liegt daran, dass Kranken- und Pflegekassen für jede Leistung einen ausgehandelten Betrag an die Pflegedienste bezahlen. „Unsere Mitarbeiter sind immer im Spagat zwischen Fürsorgepflicht und Wirtschaftlichkeit“, sagt Stefan Dreyer, Gesamtpflegedienstleiter der Diakonie. Angeboten werden dort etwa Waschen und Duschen, Blutdruckmessen oder Wunden verbinden sowie komplexere Tätigkeiten wie Katheterwechsel. Vier bis sechs Minuten dauert die kürzeste Leistung: die Medikamentengabe. Abgerechnet werden dafür rund zehn Euro.

Zu den Hausbesuchen gehört auch immer die Dokumentation der einzelnen Pflegeleistungen dazu.

Zu den Hausbesuchen gehört auch immer die Dokumentation der einzelnen Pflegeleistungen dazu.

Die Fahrt zur nächsten Kundin dauert länger, es staut sich. Vor dem Mehrfamilienhaus gibt es zum Glück eine Parklücke, in die der Smart passt. „Daran, wie stressig auch das Autofahren oft ist, denkt kaum einer“, sagt Linda und schließt die Haustür auf. In dieser Wohnung werden die Tabletten in einem abgeschlossenen Behälter aufbewahrt, nur der Pflegedienst hat einen Schlüssel. Aus Sicherheitsgründen. „Haben Sie alles?“, fragt Linda die Frau, die bei runtergelassenen Rollläden auf dem Sofa eine Zigarette raucht. Der Fernseher läuft. „Bei dem Wetter sollten Sie viel Wasser trinken“. Die Kundin nickt. „Bis morgen.“

Kunden und Pfleger müssen sich aneinander gewöhnen

Wahrscheinlicher ist es, dass am nächsten Tag ein anderer Pfleger kommt. Kunden können sich auch nicht aussuchen, zu welcher Tageszeit sie versorgt werden. Jeder Tag ist anders. Bei manchen, sagt Linda, bleibt man nur kurz, woanders komme man ins Plaudern. „Ein Vertrauensverhältnis macht die Sache leichter für beide Seiten“, sagt Linda. „Aber man muss sich erst aneinander gewöhnen.“ Vor allem, wenn es intim wird, sie Windeln wechselt oder beim Waschen hilft.

Im „Smart“ sind die Pfleger der Diakonie unterwegs.

Im „Smart“ sind die Pfleger der Diakonie unterwegs.

Der nächste Stop ist ein Hochhaus, es ist fast Mittag, Linda hat noch keine Pause gemacht. Die Seniorin kommt gerade aus dem Krankenhaus. Die Liste der neuen Medikamente ist lang, sie hat den Überblick verloren. Ihre Kinder gehen nicht ans Telefon. Im Alleinsein rutscht ihr raus: „Ich würde am liebsten nicht mehr leben.“ Dann entschuldigt sie sich. Linda schmiert ihr ein Butterbrot, packt den Entlassungsbrief aus dem Krankenhaus ein. „Hier muss jetzt was passieren, alleine kommt sie nicht zurecht“, sagt sie, als sie den Brief – in ihrer Pause – zu der Hausarztpraxis bringt.

„In der mobilen Pflege hat man mit körperlicher, aber auch mit psychischer Belastung zu tun“, sagt Stefan Dreyer. Durch den Personalmangel habe sich die Situation noch mal verschärft.

„Die Mitarbeiter fragen sich: Kriege ich meine freien Tage? Oder werde ich wieder angerufen, weil jemand fehlt?“ Linda hat 92 Überstunden. Für 30 Stunden pro Woche bekommt sie monatlich rund 2200 Brutto. „Man lebt nicht auf großen Sporen“, sagt die 57-Jährige, die seit vier Jahren in der mobilen Pflege arbeitet. Für sie sei aber nicht das Gehalt ausschlaggebend. „Ich mag es, dass wir alle Einzelkämpfer sind und so autonom arbeiten können.“

Um sechs Uhr morgens hat Lindas Schicht angefangen, um 13 Uhr ist sie immer noch auf ihrer Tour. Immer noch warten Kunden auf sie. Die nächste nicht – sie schläft. Die Tür öffnet eine private Pflegekraft aus Kroatien, sie ist für ein paar Monate bei der Seniorin eingezogen. Eine andere Art der Betreuung zu Hause. Die Diakonie stellt aber weiterhin die Tabletten. „Bis morgen“, sagt Linda. Über den Tod, sagt sie, denkt sie nur ganz selten nach. ,Bis morgen’ zu sagen, das sei wie ein Ritual. Wenn ein Kunde verstirbt, den sie gepflegt hat, geht Linda auch zur Beerdigung. Die Diakonie rechnet das als Arbeitszeit ab. Erst am Grab endet die Versorgung.

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