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NSU-ProzessInitiative bietet Live-Stream zur Urteilsverkündung in der Keupstraße

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Die Keupstraße in Köln (Archivbild)

Die Keupstraße in Köln (Archivbild)

Köln – Die Einladung stammt von Barbara John, der Ombudsfrau für die Opfer des Terrors, verübt vom Nationalsozialistischen Untergrund, kurz NSU. Am heutigen Dienstag wird in den Morgenstunden an der Keupstraße ein Bus starten und viele der 22 Frauen und Männer nach München bringen, die am 9. Juni 2004 verletzt worden waren, als vor einem Friseursalon in der Keupstraße ein mit Nägeln gespickter Sprengsatz explodierte. Nach rund fünf Jahren wird am Mittwoch das Urteil im sogenannten NSU-Prozess verkündet. Der Abschluss eines „Mammutverfahrens“, wie John es nennt.

Neben neun Morden und 15 Überfällen müssen sich Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte auch für den Anschlag in der türkisch geprägten Keupstraße in Mülheim und den Bombenanschlag auf ein iranisches Lebensmittelgeschäft in der Probsteigasse im Jahr 2001 verantworten. Der Tag des Urteils gilt bei vielen Aktionsbündnissen und der „Initiative Keupstraße ist überall“ seit Jahren als „Tag X“. Unweit des Tatorts werden sie die Ereignisse aus München im Live-Stream verfolgen, auch ein Rahmenprogramm mit Musik und Diskussionen ist organisiert worden. „Einen Schlussstrich wird das Urteil nicht darstellen, dafür sind noch zu viele Fragen unbeantwortet“, bilanziert Peter Bach, Mitbegründer der Initiative.

Zwölf Zentimeter lange Nägel im Körper

Auch im Januar 2015 hatte die Initiative demonstriert – damals vor dem Oberlandesgericht in München. Am 175. Verhandlungstag waren damals die Opfer des Attentats in den Zeugenstand gerufen worden. Auch Mediziner des Krankenhauses in Merheim waren nach München gereist, um zu berichten, wie sie einigen Opfern zwölf Zentimeter lange Nägel aus dem Körper operiert hatten. Zwei Opfer, die schwer verletzt worden waren, hatten erzählt, dass sie von der Polizei anfangs als „Tatbeteiligte“ eingestuft worden waren. Lange Zeit hatten die Ermittler eine Abrechnung im Drogen- oder Rotlichtmilieu als Tatursache vermutet.

Inzwischen gilt es als geklärt, wer die wirklichen Täter waren. Am Tag des Anschlags soll der Neonazi Uwe Mundlos ein Damenrad vor dem Friseursalon in der Keupstraße abgestellt haben. Auf dem Gepäckträger war ein Hartschalenkoffer montiert, in dem sich eine Gasflasche befand, gefüllt mit Schwarzpulver und etwa 700 langen Nägeln. Gegen 16 Uhr war der Sprengsatz mit einer Modellbau-Fernsteuerung gezündet worden.

Die Rekonstruktion des Anschlags gelang den Ermittlern bereits kurz nach der Tat durch die Auswertung von Aufnahmen einer Überwachungskamera, die am Eingang des Fernsehsenders Viva hing. Insgesamt fünfmal waren die NSU-Terroristen Mundlos und Böhnhardt zu sehen. Ihre Identität klärte sich jedoch erst im November 2011, als sie sich nach einem Banküberfall in Eisenach das Leben nahmen und ein Bekennervideo des NSU im Internet auftauchte.

Ermittlungen zu früh beendet

Weitaus mehr offene Fragen bleiben nach dem Anschlag 2001 in der Probsteigasse. Am 19. Januar 2001 explodierte eine selbst gebastelte Bombe in einem kleinen deutsch-iranischen Lebensmittelgeschäft. Etwa 1,2 Kilogramm Schwarzpulver waren in einer roten Christstollendose versteckt worden, die in einem Geschenkkorb neben Whiskyflasche und Keksen lag. Die Druckwelle riss Türen aus den Angeln, Fenster splitterten – die Tochter (19) des Inhabers erlitt schwere Verletzungen und lag anschließend einen Monat lang im künstlichen Koma.

Knapp einen Monat zuvor, am 21. Dezember 2000, hatte ein männlicher Kunde den Korb im Laden stehen gelassen. Anschließend stand der Korb fast einen Monat in einem Abstellraum des Geschäfts – bis die Tochter sich die Geschenke genauer ansah. Angeblich soll es sich bei dem Täter um Uwe Böhnhardt gehandelt haben, dies will Beate Zschäpe gehört haben, hatte sie bei ihrer Vernehmung berichtet. Zweifel an dieser Version gibt es seit dem Jahr 2012, denn damals waren Hinweise auf einen V-Mann des Verfassungsschutzes aufgetaucht, der frappierende Ähnlichkeit mit einem Phantombild besaß, das anhand der Täterbeschreibung des Familienvaters erstellt worden war. „Noch immer gehe ich davon aus, dass es einen Kölner Hinweisgeber gegeben haben muss“, sagt Edith Lunnebach, die Rechtsanwältin der Opfer-Familie (siehe Interview).

Bei der Aufarbeitung des Falls in einem Untersuchungsausschuss des Landtags hatte sich der damalige Oberstaatsanwalt selbstkritisch gezeigt und es als „fahrlässig“ bezeichnet, die Ermittlungen des Falls bereits nach fünf Monaten eingestellt zu haben. Die rote Christstollendose, in der sich die Bombe befand, tauchte schließlich 2011 im Bekenner-Video des NSU auf.

Zum Prozess-Ende

Der NSU-Prozess hat Mai 2013 vor dem Oberlandesgericht München begonnen. Am 438. Verhandlungstag wird am Mittwoch das Urteil erwartet. Es ist das größte Strafverfahren im vereinten Deutschland.

Auf dem Wallrafplatz findet am heutigen Dienstag um 17 Uhr eine Kundgebung der „Initiative Keupstraße für alle“ statt.

Die Verkündung des Urteils wollen Mitglieder der Initiative und Anwohner der Keupstraße am Mittwoch zwischen 13 und 18 Uhr in Innenhof eines Gebäudes an der Keupstraße/Ecke Genovevastraße verfolgen. Geplant sind Reden und Gespräche mit Anschlags-Zeugen. (tho)

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