Rundschau-InterviewNiedecken über Kölns Großdemo und warum Europa in Gefahr ist

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  • Wolfgang Niedecken nennt die Europawahl im Gespräch mit der Rundschau eine Schicksalswahl
  • Über seine Einstellung zu Europa, Populismus, Donald Trump und den Traum der Vereinigten Staaten von Europa hat er mit Jens Meifert gesprochen.

„Ein Europa für alle“ ist der Titel der Kölner Großdemonstration am Sonntag. Mit dabei sind Künstler der Arsch huh AG, darunter auch Wolfgang Niedecken. Jens Meifert sprach mit ihm über die Europawahl am 26. Mai.

Das Gebilde Europa gerät immer mehr ins Wanken. Sie werben engagiert für die Teilnahme an der Wahl. Ist Europa noch zu retten?

Ich bin dafür, immer erstmal den nächsten Schritt zu gehen. Es geht bei dieser Wahl darum, die demokratischen Parteien zu stärken und den rechten Populisten klare Kante zu zeigen. Wenn diese Wahl in die Hose geht, wird es immer schwerer, Europa zusammen zu halten. Wer den Schuss jetzt noch nicht gehört hat, dem ist nicht zu helfen. Die Populisten stehen schon Schlange und warten auf ihre Chance reinzugrätschen. Daher ist es eine Schicksalswahl.

Warum hat Europa so ein Negativimage bekommen?

Vielleicht weil es einfacher ist, alles schlecht zu reden. Das ist das Geschäft der Populisten, die präsentieren die bequemen Lösungen. Die gibt es aber nicht. Demokratie ist anstrengend, aber es lohnt sich. Europa ist etwas wert. Dass wir so lange Frieden hatten in Mitteleuropa, hat etwas damit zu tun. Wir haben gesehen, was passiert, wenn man sich nicht kümmert: Wenn all die jungen Menschen in Großbritannien zur Abstimmung gegangen wären, hätten wir nicht diese fürchterliche Brexit-Situation. Es geht jetzt darum, dass die Demokraten zusammenhalten.

Aber nun ist es so, dass der Spitzenkandidat der Konservativen, Manfred Weber, schon angezählt wird, und im Fall eines Wahlsiegs möglicherweise gar nicht Kommissionschef wird. Das stärkt nicht die Legitimation der europäischen Abstimmung.

Auch damit muss man sich auseinandersetzen. Der Weber macht eine Industrie-freundliche Politik, der will keine CO2-Steuer, aber das ist dann eben eine Position, die auf den Prüfstand gehört. Das hat die junge Umweltbewegung Fridays for Future nun klar auf den Tisch gebracht. Uns bleiben noch wenige Jahre, um den Hebel umzulegen. ,Et hätt noch immer joot jejange’, das gilt nicht mehr.

Haben die Leute inzwischen erkannt, wie wichtig die Abstimmung ist?

Wir tun alles dafür, dass sie es erkennen. Mein Vater hat immer gesagt: Du kannst ein Pferd zum Brunnen ziehen, aber du kannst es nicht zwingen zu saufen. Wir wollen ja auch niemanden bevormunden. Aber es gibt vielleicht Dinge, die den Bürgern inzwischen klar machen: Europa bringt uns etwas. Von so simplen Sachen wie wegfallende Roaminggebühren bis hin zu einem schlagbaumfreien Europa. Ich habe die Zeiten noch gut in Erinnerung, als man an den Grenzen ewig in der Schlange stehen musste. Das ist noch nicht lange her. Abgesehen davon gibt es gewichtige Themen, bei denen Europa eine starke Stimme braucht. Etwa gegenüber Donald Trump, bei dem weiter keiner weiß, wie er in den Griff zu bekommen ist. Da steht unsere Zivilisation auf dem Spiel.

Die Kundgebung

25.000 Besucher werden am Sonntag auf der Deutzer Werft erwartet. Ein Bündnis von rund 60 Organisationen ruft auf unter dem Titel „Ein Europa für alle“. Die Kundgebung beginnt um 12 Uhr.

Eine Stunde vorher starten dezentrale Kundgebungen an vier Standorten. Vom Rudolfplatz, dem Chlodwigplatz in der Südstadt, dem Roncalliplatz am Dom und von Kalk Kapelle aus ziehen die Demonstranten in einem Sternmarsch zum Deutzer Rheinufer.

Auf der Bühne zu sehen sind unter anderem die Höhner, Bläck Fööss, Brings, Cat Ballou, Wolfgang Niedecken, L.S.E., die Kabarettisten Jürgen Becker, Wilfried Schmickler, Fatih Çevikkollu, sieben Künstler der Stunksitzung und OB Henriette Reker. Die Kundgebung endet gegen 17 Uhr. (mft)

Auf dem Album „Lebenslänglich“ gibt es den Song „Vision vun Europa“. Da geht es um die Sehnsucht der Flüchtlinge nach Europa. Ist es die Flüchtlingsfrage, die das europäische Projekt an den Rand des Scheiterns gebracht hat?

Ich weiß nur, dass es zynisch ist, afrikanische Bootsflüchtlinge als Wirtschaftsflüchtlinge zu bezeichnen. Das sind Menschen, die haben nie eine Chance gehabt, an unseren Wohlstand nur ansatzweise heranzukommen, der ganze Kontinent ist immer nur ausgeplündert worden. Also: Man kann die Flüchtlingsfrage vor dieser Wahl nicht ausblenden, weil sie eben auch eine Aufgabe für ganz Europa ist. ,Grenzen hoch’, das kann es nicht sein. In einer globalisierten Welt können wir uns nicht verschanzen, das funktioniert nicht. Europa muss sich stärker in Afrika engagieren, aber es muss auch mehr Flüchtlinge aufnehmen und den Menschen mit Würde, Anstand und Respekt begegnen.

Ist Europa ein Europa der Rosinenpicker geworden?

Sie sind zumindest dabei. Wenn ich mir einige der osteuropäischen Visegrádstaaten wie Polen oder Ungarn anschaue, die Subventionen gerne mitnehmen, aber keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, dann sind das Dinge, die gehen einfach nicht. Das europäische Prinzip der Solidarität ist bei denen leider etwas in Vergessenheit geraten.

Glaubt Wolfgang Niedecken noch an den Traum der Vereinigten Staaten von Europa?

Wir haben noch die Chance. Solange es noch möglich ist, werde ich diesen Traum doch nicht aufgeben. Nur: Zurzeit geht es eher darum, dass der Laden nicht auseinanderfliegt. Vielleicht kann man es aber auch positiv drehen: Es gab noch nie so viel Aufmerksamkeit für eine Europawahl, da fühlt man dieses Mal eine ganz andere Dringlichkeit. Ich hoffe, das werden ganz viele Menschen erkennen.

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