Selbsthilfegruppe in Köln gegründet„Kinder-Verschickung“ belastet viele weiterhin

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Genuss und Freude erlebten viele Kinder nicht in den Kinderkuren der 1950er bis 1970er Jahre.

Genuss und Freude erlebten viele Kinder nicht in den Kinderkuren der 1950er bis 1970er Jahre.

Köln – Es ist 55 Jahre her. Doch Angelika erinnert sich immer noch gut an den kalten Januarabend auf dem Kölner Hauptbahnhof. Zehn Jahre ist sie alt, als sie dort mit einer Gruppe von Kindern und Betreuern steht. Ihr Ziel: Ein Kindersanatorium auf dem Oberjoch in Bayern. „In der Schule hatte es eine Untersuchung gegeben, bei der festgestellt wurde, dass ich zu dünn sei“, erzählt Angelika. Die Folge: Ihr wird eine sechswöchige Kinderkur verordnet. Gängige Praxis damals.

Bei so genannten Kinderkuren fuhren zwischen 1948 und 1981 unzählige Kinder in „Verschickungsheime“. Dort sollten sie aufgepäppelt werden. Doch statt der Erholung brachten viele von ihnen unangenehme oder gar traumatische Erinnerungen mit nach Hause. „Viele der Verschickungskinder erlitten Misshandlungen. Dazu gehörten Esszwang, Toilettenverbot, körperliche Strafen, Demütigungen und Erniedrigungen“, heißt es in einer Erklärung der Initiative Verschickungskinder.

Eine „Verschickung“ mit langwierigen Folgen

Durch einen Fernsehbeitrag ist Angelika im vergangenen Jahr auf die Initiative aufmerksam geworden. „Für mich hat die Entdeckung, dass ich mit meinen Erlebnissen als Zehnjährige nicht alleine war, viel bewirkt. Ich habe Erklärungen für mein Verhalten gefunden und empfinde das entlastend.“ Während ihrer gesamten Schullaufbahn litt Angelika an den Auswirkungen ihrer „Verschickung“. Ihr war grundsätzlich sehr unwohl, wenn es um Gruppenreisen oder Schulausflüge ging .

„Dabei habe ich in meiner Kinderkur nichts wirklich Traumatisierendes erlebt“, sagt die Kölnerin. Vor der Reise freute sie sich auf Abenteuer im Schnee und Spaß in der Gruppe. Doch schon am Bahnhof kam die Ernüchterung. „Die Betreuer kommandierten die Kinder in unterschiedliche Abteile. Unser Abteil wurde mit einem Seil verschlossen, wir mussten daran ziehen, wenn wir auf Toilette wollten. Die Atmosphäre war freudlos, kein Erwachsener wechselte ein persönliches Wort mit mir. Ich fühlte mich verloren. Wie in ein Paket reingesteckt.“

„Ich habe mich wie ein Objekt gefühlt“

Als die Kinder müde in Bayern eintreffen, werden sie „ins Bett gesteckt“, dann argwöhnisch untersucht und begutachtet. „Ich hatte lange Haare, die durch die Reise verwuschelt waren. Da wurde sehr misstrauisch nach Läusen geschaut. Ich habe mich wie ein Objekt gefühlt“, erinnert sich Angelika.

Besonders bedrückend erlebt sie das Essen im Speiseraum. Die Kinder müssen alles aufessen. Ohne Pardon. Auf Abneigungen wird keine Rücksicht genommen. Essen zu tauschen, ist absolut tabu. „Alle mussten solange sitzen bleiben, bis der letzte aufgegessen hatte. Die Erzieher wirkten wie Aufseher. Wenn jemand einen Fehler machte, wurden alle bestraft.“

Als die Betreuer einmal Essensreste auf übereinander gestapelten Tellern finden, wird derjenige ausfindig gemacht, der sie nicht gegessen hat. Das Kind wird gezwungen, die Reste zu essen. „Ruhig sein und in sich reinessen“ heißt die Devise.

Zur Mittagspause werden die Fensterläden zwei Stunden verschlossen und die Kinder müssen sich absolut ruhig verhalten. „Nur an einem Tag in der Woche war Lesen erlaubt.“

Freudlose Erlebnisse

Freudvoll ist es nicht in der Kinderkur. In Reih und Glied kommen die Kinder zweimal täglich an die frische Luft. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir draußen gespielt hätten. Ich habe das Gefühl, dass ich nie etwas von der Landschaft gesehen habe“, sagt Angelika. Stattdessen kann sie sich daran erinnern, stundenlang auf ihre festen, schwarzen Schuhe im Schnee geblickt zu haben.

Als sie nach etwa drei Wochen einen unglücklichen Brief an ihre Eltern schreibt, holt ihre Mutter sie ab. Ungewöhnlich für die 60er Jahre. Doch der Kölner Kinderarzt, mit dem sich die Mutter berät, scheint seiner Zeit voraus. Sein Rat: „Heimweh ist eine schlimme Krankheit. Holen Sie Ihr Kind ab.“

Angelika empfindet es als Erlösung, dass ihre Mutter sie „rettet“. Dennoch hat sie auch das Gefühl, besonders empfindlich zu sein. Später wird sie Psychologin und arbeitet mit Kindern und Jugendlichen. „Ich weiß, dass es vielen Verschickungskindern viel schlechter ergangen ist, als mir.“ Um in vertrauensvoller Atmosphäre die Erlebnisse während der „Verschickung“ aufzuarbeiten, gründet sie eine Selbsthilfegruppe. „Ich bin gespannt, wie viele kommen.“

Die Gruppe trifft sich im Haus der Selbsthilfe, Marsilstein 4-6, Anmeldung bitte per E-Mail an Verschickungskids.koeln.nrw@gmx.de

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