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Veedels-CheckEhrenfeld – Vom „Kraadeveedel“ zum „place to be“

Lesezeit 7 Minuten
Moschee Ehrenfeld

Die Moschee in Ehrenfeld.

Köln – Hält man im Jahr 2018 zusammen in den Veedeln? Gibt es sie noch, die typisch kölschen Veedel? Mehr als 30.000 Kölner haben sich an unserer nicht repräsentativen Umfrage beteiligt und Noten für Ihre Stadtteile verteilt. Alle 14 Tage veröffentlichen wir die Ergebnisse von fünf weiteren Veedeln.

Die Ergebnisse zu den bislang veröffentlichten Stadtteilen mit Bewertungen zu den Themen Verkehr, Einkaufen, Sicherheit und vielem mehr finden Sie hier.

Ehrenfeld im Porträt

Nicht einmal einen vergrützten Tümpel hat Ehrenfeld seinen Bewohnern zu bieten. Trotzdem steht mittendrin, gleich am Bahndamm, ein Leuchtturm. 44 Meter hoch, errichtet im Jahre 1895 von der Helios Electrizitäts AG – ein Kuriosum, das zum Wahrzeichen des Stadtteils wurde. Zunächst erstrahlte er als Werbeträger der Firma in dem hoch industrialisierten Vorort. Doch nach dem Niedergang der großen Fabriken ab 1970 dominiert nun das Sinnbildhafte, wie es im Begriff „Leuchtturmprojekt“ steckt: Das alte Arbeiterveedel mit dem etwas zweifelhaften Ruf ist zu einem Vorzeige-Viertel geworden, zu einem Aushängeschild, es ist bunt, hip, weg-weisend in vieler Hinsicht.

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Erkennbar ist das an den vielen jungen Menschen, die durch Ehrenfelds Straßen laufen. Sie spüren der Energie eines „place to be“ nach, eines Orts also, an dem man sein sollte, weil hier neue Ideen entstehen, weil von hier neue Impulse ausgehen. Ein bisschen wie San Franciscos Haight-Ashbury-Distrikt um 1967 vielleicht, ein bisschen wie Kreuzberg Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre. Und ein Hauch von Silicon Valley. „Kreative Menschen, IT-Unternehmen, Designer geben jetzt den Ton an, das ist der Lauf der Dinge“, sagt der Künstler Jürgen Raap nicht ohne Bedauern.

Raap lebt seit 1980 in Ehrenfeld, gehörte zu den Pionieren der Szene. In seinen Bildern verbrüdern sich zuweilen Surrealismus und Blootwoosch-Sphäre, er liebte die alten Kölsch-Kneipen im damals noch „Räuberfeld“ oder „Kraadevedeel“ genannten Ehrenfeld. „Es hat aber keinen Zweck, nostalgisch zu werden, man kann Wohnquartiere nicht musealisieren“, stellt er klar. „Kölsch- Kneipen interessieren heute niemanden mehr, da sind erst Döner-Läden draus geworden, danach Bistros mit provenzalischer Küche oder vegane Restaurants. Wenn ich noch mal 30 wäre, fände ich das auch toll.“

Kneipen- und Künstler-Szene

Seit den 80er Jahren hat sich nicht zuletzt in den verlassenen Industriebauten eine reiche Kneipen- und Künstler-Szene mit viel alternativem Flair entwickelt, zu Malochern und Migranten kamen immer mehr Studenten, die hier billigen Wohnraum fanden. Ab 2002/2003 wurde Ehrenfeld endgültig zum „In-Viertel“, und der Hype ebbte keineswegs ab: Erst einige Jahre später ging das Veedel richtig durch die Decke. In ihrem Beitrag „Die kreative Stadt“ für den Band „Venedig ist auch nicht viel größer als Ehrenfeld“ (Hrsg: Peter Rosenthal) beschreibt Sabine Voggenreiter, ehemals Leiterin des Design Quartiers Ehrenfeld (DQE), 2010 als Jahr der Initialzündung. Als Investoren auf dem Brachgelände rund um Heliosturm und Rheinlandhalle, auf dem unter anderem der legendäre Szene-Treffpunkt „Underground“ stand, eine Shopping-Mall und Luxuswohnungen hochziehen wollten, regte sich massiver Widerstand. Der Rest ist Geschichte: Ein anspruchsvoller, für Köln bislang einmaliger Prozess der Bürgerbeteiligung begann, nun soll als Kompromiss ein Mischquartier aus Wohnen, Gewerbe, Kultur, öffentlichen Flächen und Inklusiver Universitätsschule entstehen.

Seither mischen sich die Ehrenfelder über eine kaum noch überschaubare Zahl von Initiativen, Projekten und Vereinen in Fragen von öffentlichem Interesse ein: Sie kümmern sich um die Verschönerung von Neptunplatz und Alpenerplatz, gründen Gemeinschaftsgärten, das Colabor veranstaltet einen Markt für Bauern aus der Region und im „Good Food“-Laden zahlt der Kunde für krumme, aussortierte Gurken und Möhren, was er eben dafür zahlen möchte. In Ehrenfeld wurden graue Wände großflächig mit knalligen Urban Art-Kunstwerken bemalt und der Hochbunker in der Körnerstraße konnte als Kunstort gerettet werden. Dass in Ehrenfeld die Radkomm gegründet wurde, die sich für die Förderung des Radverkehrs einsetzt, versteht sich fast von selbst. Ebenso wie die Entscheidung der Agora Köln, hier 2013 den ersten „Tag des guten Lebens“ zu veranstalten.

Als einen „Urbanismus von unten“, als eine „Rückeroberung städtischer Räume“ für die Allgemeinheit und eine „neue Lust auf das gute, das gelingende Leben“ in der Gemeinschaft als Gegengewicht zu Renditedenken und Masterplänen preist Voggenreiter diese Entwicklungen. In der Tat sind die Erfolge erstaunlich. So legten Bewohner der Rothehausstraße Pläne zur Verkehrsberuhigung in ihrer Straße vor, die fast Eins zu Eins ungesetzt wurden, und „Innergrün“ bremste das Vorhaben eines Vereins, in der Bezirkssportanlage einen riesigen Parkplatz anzulegen, mit Vorschlägen zur Erweiterung der öffentlich nutzbaren Grünflächen aus. Und wer weiß, vielleicht wird auch die Vision des autofreien Sonntags für die Venloer Straße noch Wirklichkeit.

Gentrifizierung fordert Opfer

Möglich ist das auch, weil solche Vorstöße von der Ehrenfelder Politik meist wohlwollend unterstützt werden. Die Bezirksvertreter möchten auch den Anteil des Radverkehrs im Bezirk auf 40 Prozent anheben und fordern eine Mindest-Gehwegbreite von zwei Metern. Solche Konzepte für eine bewohnerfreundliche und zukunftsfähige Stadt werden anderswo aufgegriffen und sickern allmählich in den Mainstream ein.

Die Impulse dazu kommen von gut ausgebildeten Menschen, die oft mit der ersten Gentrifizierungswelle hierher zogen. Das Problem: Die Milieus der Arbeiter, Handwerker oder Migranten sind in den Initiativen kaum vertreten. Nicht nur das, viele werden durch die wachsende Attraktivität des Stadtteils sogar vertrieben. Das bestätigt Veedelsmanagerin Lale Konuk, die sich um die Integration der bulgarischen Roma vom „Arbeiterstrich“ in der Hansemannstraße kümmert. „Aber auch die türkischstämmige Bevölkerung ist längst betroffen. Ihr Anteil sinkt ständig, weil sie sich die Wohnungen kaum noch leisten kann“, sagt sie.

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Der Abriss des Undergrounds 2017 und der Auszug von Jack-in-the-Box machten schmerzlich bewusst, dass da etwas kippen könnte. Derzeit werden die letzten Ruinen des Industriezeitalters abgeräumt, die freien Grundstücke mit teuren Wohnungen bebaut. So bleibt nur die Hoffnung, dass Ehrenfeld von der ganz großen Gentrifizierungswelle verschont bleibt – die Substanz der Altbauten ist häufig nicht so toll, die Straßen sind eng und kaum begrünt. Und noch strömen junge Leute massenhaft ein, noch ist bei Agora-Treffen die Bude voll mit Initiativen, noch bleiben engagierte Bürger dran an zähen Prozessen wie der Helios-Bebauung.

Wenn es gut geht, ist Ehrenfeld noch auf Jahre eine Art Freiluft-Labor, in dem Möglichkeiten moderner Urbanität ausgelotet werden, wo neu ausgehandelt wird, wer beim Umgang mit dem knappen städtischen Raum mitreden darf. Aber wenn sie kommen sollte, diese ominöse Welle, wird der rohe Klotz aus rotem Backstein weiter stoisch am Bahndamm stehen. Er ist denkmalgeschützt und zu eng für einen schicken Restaurant- oder Kneipenbetrieb: Der Leuchtturm ist nicht gentrifizierbar.

Geschichte Ehrenfelds

Als Industrialisierung und Bevölkerungszuwachs Mitte des 19. Jahrhunderts zu Platzmangel in Köln führten, sollten Gewerbeflächen und günstiger Wohnraum im neuen Vorort an der Ehrenstraße entstehen. Ab 1845 wurde gebaut, bald wuchs in Ehrenfeld, das von 1879 bis zur Eingemeindung 1888 Stadtrechte hatte, bedeutende Industrie heran: Ostermann goss die größten Schiffspropeller der Welt, die Rheinische Glashütte lieferte Prunkgläser  an den Kaiserhof, Audi-Gründer August Horch schraubte  an seinen ersten Autos, 4711 zog aus der Innenstadt her.   Und  Arbeiter badeten im Neptunbad im Jugendstil, in der Rheinlandhalle gab’s Sechstagerennen sowie Nazi-Kundgebungen, 1957 eröffnete  der erste Supermarkt Deutschlands. Nach dem Niedergang der Industrie nutzten Künstler, Theaterleute und Musiker die  Hallen: „Loft“, „Underground“ und „Live Music Hall“ wurden eröffnet, auch das Kino Cinenova. Das Kölner Brett kommt aus Ehrenfeld, von hier sendet Jan Böhmermann. Der Dienstagszoch ist der größte Vorortzug Kölns und das Körnerstraßenfest das bekannteste kleine Straßenfest aller Zeiten. (hwh)

Baustellen in Ehrenfeld

Ähnlich spektakulär wie die Entwicklung des Stadtteils in den vergangenen Jahren sind seine offenen Baustellen. Da ist zunächst das Helios-Gelände, über dessen Neubebauung seit acht Jahren öffentlich diskutiert wird. Kürzlich wurden Gruben für die Fundamente der Inklusiven Universitätsschule ausgehoben, die  2023/24 hierher umziehen soll. Noch nichts entschieden ist beim zugesagten Kulturbaustein, ein erster Runder Tisch hat vergangene  Woche den  Aufschlag gemacht. Ein bisschen an den Berliner Flughafen erinnert die Moschee an der Ecke Innere Kanalstraße/Venloer Straße. Seit 2009 wird dort gebaut, die offizielle Einweihung sollte eigentlich 2012 erfolgen, wurde aber immer wieder verschoben. Aufgrund der derzeit schwierigen Beziehungen zum türkischen Staat sind seriöse Prognosen  kaum möglich.   Ein handfester Skandal ist der Zustand der Bahnbögen in der Bartholomäus-Schink-Straße. Weil die Deutsche Bahn bei der Trassenverbreiterung vor 15 Jahren geschlampt hat, sickert Wasser ein und macht die Bögen für die geplante gewerbliche Nutzung unbrauchbar.      

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