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Veedelscheck für Köln-KalkDas Veedel mit dem ganz speziellen Sound

Lesezeit 7 Minuten
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Die Kalker Hauptstraße ist die Lebensader des Veedels.

Köln – Ihr Lachen übertönt alles, selbst die ansonsten auch nicht gerade leisen italienischen Stammgäste an der Theke in Mickis Bar. Bea Dickas ist Ur-Kalkerin. Schon in ihrer Jugend war die Verbindung aus Grundlautstärke, die dieses Veedel mitbringt und der „Nina-Hagen-Schule“, durch die sie gegangen sind, nützlich, wenn es darum ging, sich bei Discoabenden in Jugendheimen hervorzutun. „Da ging es darum, wer die größte Schnauze hat. Und das war immer die Kalk-Fraktion.“

Ein ganz besonderer Sound

Das Viertel hat einen ganz besonderen Sound, sagt sie. „Das fängt schon bei den vielen Sprachen an.“ Zu dem babylonischen Sprachgewirr, das sie nicht verstehen konnte, gehörte während ihrer Kindheit auch Kölsch. Ihre Eltern, beide von der Ostsee, haben ganz anders gesprochen. „Ich habe die türkischen Kinder gegenüber genauso wenig verstanden wie die kölschen Pänz von nebenan.“

Die habe es damals noch gegeben, richtig Kölsch sprechende Kinder. Für Dickas eine ganz andere Welt, wenn sie sie beschreibt, dann liebevoll, aber auch etwas distanziert. Als sie begann, Kalk für sich zu erobern, in den späten 60er- und 70er-Jahren, war das Veedel schon Multikulti, aber an Integration war nicht zu denken. „Man hat damals etwas versäumt. An Integration wurde gar nicht gedacht. Die haben alle gedacht, die Türken kommen für ein paar Jahre und hauen dann wieder ab.“ Pustekuchen. Sie erinnert sich noch an eine große Straßenschlacht, Türken gegen Deutsche, alle um die 14 Jahre. „Wir Mädels haben das zum Glück halbwegs unter Kontrolle bekommen.“

Multikulti-Melting-Pot

Heute leben unzählige Nationalitäten in Kalk. Von denen jede ihren eigenen Teil zum Sound-Cocktail beiträgt. Je nachdem, in welcher Ecke man sich befindet, klingt das Veedel wieder anders. So sind die Straßen zwischen Post- und Taunusstraße von viel Italienisch geprägt. Wo Dickas jetzt wohnt, in der Vereinsstraße, gibt es viele Afrikaner. „Ich wohne im Erdgeschoss nach vorne raus und schlafe mit offenem Fenster. Dann höre ich sie im Vorbeigehen miteinander reden, auf allen möglichen Sprachen durcheinander. Das hat eine ganz eigene Musik, für mich wunderschön.“

Kalk als Multikulti-Melting-Pot ist ein wichtiger Aspekt – zum Beispiel kann man Spezialitäten aus dem Subsahara-Afrika, Italien, Polen, Asien, der Türkei und aus dem arabischen Raum in jeweils eigenen Supermärkten nur wenige Meter voneinander entfernt kaufen.

Es kann aber auch ruhig und besinnlich zugehen in Kalk. Dickas blickt versonnen aus dem Fenster in den vormittäglichen Frühlingshimmel. Unten auf dem Postplatz vor der Bar wimmelt es vor Leuten, aber in der Luft oben ist alles ruhig. Die landenden Flieger sind hier noch zu hoch, um ihren Teil zum Kalker Sound beizutragen.

Je nachdem wie der Wind steht, hört sie die Glocken von drei verschiedenen Kirchen in ihrem Garten. Dazu kommen am Abend und in der Nacht das Rumpeln und singende Quietschen der Züge auf dem Güterbahnhof. „Das hatte ich als Kind auch. Mein Zimmer ging direkt auf eine Wand. Und dahinter waren die Gleise.“ Die klagenden Gesänge der Züge klingen wie große Kinder, die quengeln, weil sie nicht schlafen wollen. Für unvoreingenommene Ohren auch eine Art Poesie.

Dickas ist Klangkünstlerin, macht Improvisation und Noise-Musik. Aber in ihren Stücken gibt es auch ruhige Passagen. Dafür nutzt sie Aufnahmen aus Kalk. „Das waren bislang wirklich immer eher die ruhigen Sachen, aus meinem Garten zum Beispiel“, sagt sie und wundert sich selbst. Denn der Gedanke an Ruhe in Kalk ist bei ihr doch eher nachgeordnet. Wie ein Postscriptum kommt „Ruhe“ erst nach einer langen Aufzählung lauter Geräusche von Industrie – „schade, dass es die Geräusche der KHD-Hallen nicht mehr gibt“ – oder aber von Baustellen. „Dass hier nichts eingestürzt ist, als sie den U-Bahn-Tunnel gegraben haben, ist nur unserem guten Boden zu verdanken. Damals sind die in den Löchern mit Bötchen herumgefahren“. Ruhe gab es dafür schon immer auf dem Kalker Friedhof: „Obwohl mir da Nicht-Kalker auch den Vogel zeigen würden. Immerhin sind da auch Schienen direkt dahinter.“

Tunnel noch für Jahre Baustelle

Was für den Kalker Osten die Schiene ist, stellt für den Norden die Autobahn dar. Von der Zoobrücke kommend geht es in den Tunnel, der seit Jahren umgebaut wird und der noch Jahre Baustelle bleiben wird. Ein anderes Geräusch, das sich, unter allem liegend, unmerklich einschleicht, an das man sich gewöhnt und das irgendwann dazu gehört. Im Kalker Süden ist es das dumpfe Rumpeln der U-Bahn. Sich mit all dem zu arrangieren ist nicht nur kölscher Frohsinn, sondern auch ein Stückweit Beharrlichkeit. Bea Dickas sagt: „Die einzige Nachhaltigkeit, die es hier gibt, ist die der Unbeständigkeit.“ Das sei zwar nur „Straßenweisheit gemischt mit Küchenphilosophie“, aber es könnte etwas dran sein.

Echte Stille gibt es in Kalk aber auch. Etwa zwischen den Neubauten auf dem Deutzer Feld. Hier, zwischen der GAG-Verwaltung, dem ADAC und dem Odysseum, ist es zu manchen Zeiten fast schon gespenstisch still. In kurzer Zeit wurden an der Straße des 17. Juni große Büro- und Verwaltungsgebäude errichtet. Hier herrscht das leise Tippen auf einer Computertastatur oder das Zuklappen eines Aktenordners vor, und dieser Sound dringt nicht bis auf die Straße vor.

Ein merkwürdiger Antipode zum sonstigen Stadtteil hat sich da recht unvermittelt aufgetan, und die Existenz dieses Quartiers ist im dem Bewusstsein vieler Kalker noch gar nicht richtig angekommen. Die alteingesessenen Bewohner und dieses neue, noch künstlich wirkende Quartier müssen erst noch zusammenwachsen.

Für die Klangkünstlerin Bea Dickas jedenfalls endet Kalk immer noch an der Vietorstraße: „Dahinter, da wo die Häuser mit den roten Türklingeln waren, da ging man nicht hin.“ Und danach kam nur noch „die Mauer“, die um das Gelände der ehemaligen Chemischen Fabrik Kalk führte. Es wird noch etwas dauern, bis auch diese Mauer aus den Köpfen verschwunden ist und der Stadtteil mit dem Neubaugebiet zusammenwächst. Aber bis dahin wird auch dieser eher stille Teil Kalks etwas zum Vielklang des Veedels beitragen.

Offene Baustellen

Im Stadtteil fehlt es nicht an spannenden Initiativen, sei es von der Stadt (die neue Stadtbücherei) oder von Privatleuten (Lichtspiele Kalk). Doch steigen auch hier die Mieten. Eine sanfte Steuerung wäre gefragt. Aufhalten lässt sich solch ein Prozess nicht, verträglich gestalten schon.

Beeinflusst wird die Entwicklung des Stadtteils zusätzlich durch die mehr als 470 Wohnungen, die im Zuge von Großprojekten in der nächsten Zeit mitten im Veedel entstehen werden. Die Mieter werden den Stadtteil verändern. Eine Herausforderung wird sein, den Verkehr in den Griff zu bekommen.

Die Interessen- und Standortgemeinschaft, zu deren Gründung man derzeit einen zweiten Anlauf nimmt, könnte die Kalker Hauptstraße sinnvoll und nachhaltig entwickeln. Es braucht ein breiter gestreutes Angebot und sinnvolle Zusammenarbeit zur Bekämpfung von Leerständen. Mit dem Kaufland im Kalkhof wird zwar ein Kernstück wiederbelebt, aber andere Leerstände machen auch weiterhin keinen guten Eindruck. Die größte Baustelle bleiben aber die Hallen Kalk. Eine innovative Neunutzung der denkmalgeschützten Industriehallen könnte ein Leuchtturmprojekt werden.

Der Blick zurück

Die Ortsbezeichnung „Villa Kalka“  des heutigen Stadtteils Kalk wird erstmalig 1003 in einer Schenkungsurkunde von Erzbischof Heribert an die  Abtei Deutz urkundlich erwähnt. Den ursprünglichen Siedlungskern  bildeten einzelne Höfe im Bereich der heutigen Kirche St. Joseph. Durch die Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Kalk zu einer wohlhabenden Industriestadt. Klöckner-Humboldt-Deutz und Chemische Fabrik sind nur zwei Unternehmen, die eng mit Kalk verbunden sind.  1910 wurde Kalk nach Köln eingemeindet. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Stadtteil  zu 90 Prozent zerstört.  Und dennoch: In der Nachkriegszeit entstand hier wieder einer  der größten Industriestandorte Kölns. Die Rezession in den 1970er und 1980er Jahren sorgte für einen Strukturwandel im Stadtteil. Viele Werkstore wurden geschlossen, hohe Arbeitslosenzahlen sowie nicht mehr genutzte Fabrik- und Firmengelände waren die Folge.  Nach und nach wurden die Industriebrachen neu bebaut. Köln Arcaden, Odysseum,  GAG und Polizeipräsidium sind Beispiele, der Prozesse läuft weiter.

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