Veedels-CheckGroßstadt-Flair in der Neustadt-Nord

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Die Agneskirche im Agnesviertel

Köln – Hält man im Jahr 2018 zusammen in den Veedeln? Gibt es sie noch, die typisch kölschen Veedel? Mehr als 30.000 Kölner haben sich an unserer nicht repräsentativen Umfrage beteiligt und Noten für Ihre Stadtteile verteilt. Alle 14 Tage veröffentlichen wir die Ergebnisse von fünf weiteren Veedeln.

Die Ergebnisse zu den bislang veröffentlichten Stadtteilen mit Bewertungen zu den Themen Verkehr, Einkaufen, Sicherheit und vielem mehr finden Sie hier.

Das Veedel im Porträt

Neustadt-Nord: Die Bezeichnung klingt schon nach dem bürokratischen Konstrukt, das es eigentlich ist. Belgisches Viertel, Mediapark, Agnesviertel – alles ist Neustadt, und alles ist verschieden. Die Grenzen sind bei weitem nicht so fließend wie bei ihrer bekannten Schwester im Süden der Stadt.

An lauen Sommerabenden kommt das ganze Agnesviertel-Panoptikum vor dem „Pico“ auf dem Neusser Platz zusammen. Der Platz wird zum Balkon und der Balkon zur Bühne. Ein Stimmenfang besonderer Art, bunt, vielfältig, schnell. Und doch auf ganz eigene Weise entschleunigend: Der gewaltige Schatten der Platanen ein Stück weiter die Weißenburg hinab senkt sich auf erhitzte Gemüter und mahnt zur Gelassenheit. „Das Leben spielt sich heute viel mehr im Freien ab“, sagt Frank Meyer. Der Kabarettist und Autor kennt das Veedel seit Jahrzehnten. „Vom Ebertplatz bis zum Neusser Platz gibt es gefühlt mindestens 30 Gastro-Betriebe. Früher war hier das Stüsser, das Balthasar und die ein oder andere Kneipe in den Nebenstraßen.“ Aber jetzt? Die alten Läden sind verschwunden, als letztes erwischte es das Uhren- und Schmuckgeschäft unten am Ebertplatz. Auch wenn immer wieder neue Läden aufmachen: „Die Mischung war eine andere. Auch unter den Anwohnern. Die Gentrifizierung ist nicht wegzuleugnen“, sagt Meyer. Wobei er nach wie vor gerne im Viertel wohnt und längst nicht alles kritisch sieht.

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Bunt und etwas abgerockt ist so manche Häuserzeile.

Was nicht nur ihm auffällt: So fruchtbar wie jetzt war der Stadtteil wohl noch nie. „Man sieht sehr viele schwangere Frauen oder solche, die einen Kinderwagen schieben. Oft beides“, sagt Meyer, der sich über die anhaltende Verjüngung des Veedels durchaus freut. Aber auch anmerkt: „Die Diskant-Kreischorgien vorzugsweise junger Damen können einem schon mal auf den Wecker gehen.“ Meyer wohnt mit Blick auf einen Schulhof. Seit kurzem mit Ganztag.

Party-Location in Stadtführern

Weniger Gelassenheit, dafür ausgelassenes Treiben auf dem Brüsseler Platz zu später Stunde. Der hat es mittlerweile in Stadtführern zur ausgewiesenen Party-Location gebracht. Nicht gerade zur Freude mancher Anwohner, die die Stadt gerade gerichtlich zur spätabendlichen Ruhe verdonnert haben. Wie sie das machen soll? „Wir prüfen noch“, heißt es vonseiten der Verwaltung.

Kunst, Kultur, Clubs und Shopping-Highlights – das Belgische Viertel steht für vieles, was Köln als Ganzes gerne wäre. Eine ganz eigene „Street-Art“ hat sich hier entwickelt, die unter anderem auch beim „le bloc“ ihren Ausdruck findet: Das größte Mode- und Designfestival der Stadt zieht jedes Jahr mehr Menschen an und hat sich im zehnten Jahr seines Bestehens längst zu einer eigenen Marke entwickelt. Ganz ohne städtische Hilfe. Das Belgische Viertel steht in Teilen sogar für mutigen, wenn auch nicht unumstrittene Städtebau: Als bekannt wurde, dass die Christuskirche abgerissen und mit flankierender Wohnbebauung neu aufgebaut würde, gab es heftige Widerstände. Heute gilt das Ensemble den einen als städtebauliches Leuchtturm-Projekt, die anderen schimpfen noch immer laut und heftig. Nur kalt lässt diese Architektur niemanden.

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Die Weißenburgstraße

Auch nicht ein paar Meter weiter. Kölns höchstes Hochhaus steht hier, der Kölnturm. Mit 148,5 Metern gerade mal eineinhalb Meter höher als das Riehler Axa-Hochhaus. Direkt daneben der Cinedom, zu Beginn der 90er Jahre das modernste Multiplex-Kino der alten Welt. Tom Cruise war hier, Harrison Ford, Britney Spears, Angelina Jolie, Michael Douglas, Brad Pitt und viele andere A- bis C-Promis haben hier ihre Filme vorgestellt. Überhaupt, der Mediapark: Ein ursprünglich überwiegend für Medien konzipierter Gewerbepark, 1987 begonnen und 2004 fertiggestellt. Heute beherbergt das Areal immer noch den ein oder anderen Medienbetrieb, aber auch Praxen, Start-ups, sogar ganze Kliniken. Als Ensemble durchaus gelungen, sogar der alte römische Aquädukt hat einen Platz im dazugehörigen Ententeich erstritten.

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Das höchste Hochhaus in Köln: Der Kölnturm im Mediapark.

Zusammengenommen das schönste Veedel der Stadt? Mag sein. „Wir fühlen uns hier wohl, wollen nicht weg“, betont Meyer. Wer hier eine bezahlbare Bleibe gefunden hat, zieht freiwillig so schnell nicht fort. Viel Altbausubstanz, viel Grün, viel Atmosphäre. Aber auch viel Miete: 16 Euro für den Quadratmeter kalt sind bei Neuvermietungen keine Seltenheit. Unbezahlbar für viele, wenn denn überhaupt etwas frei wird – die Wohnungen gehen fast ausnahmslos unter der Hand weg.

Noch funktioniert die Mischung

Immerhin, noch funktioniert trotz aller Gentrifizierung die Mischung einigermaßen. Zwischen wichtigen Medienmenschen und zu Geld gekommener Bohème bleibt noch genug Freiraum für Familien, Freunde, Hunde. Und neben den unvermeidlichen SUV parkt noch der ein oder andere Ranzgolf.

Die Neustadt hatte speziell in ihrem nördlichen Abschnitt nicht immer den besten Ruf. Was heute in Teilen Glanz und Gloria des alten Köln bewahrt, waren nach dem Zweiten Weltkrieg oft genug die Überreste eines vergangenen Zeitalters. Viele Altbauten notdürftig geflickt, Kohleöfen, Boxerkneipen besser als im Friesenviertel. Der Straßenstrich rund um den Reichenspergerplatz hielt sich bis ins beginnende neue Jahrtausend. Dennoch: „Ein bürgerliches Viertel war das immer hier“, erzählt Meyer. Mit allen Vor- und Nachteilen. Auch früher schon, als es noch den Ruf einer Intellektuellen-Hochburg hatte. Was nicht nur an Heinrich Böll lag, sondern auch an diversen Künstler-Kommunen, die sich – von privater Seite teilweise durchaus großzügig gesponsert – hier niedergelassen haben.

Heute ist davon nicht mehr viel zu spüren. Eine Plakette am Hauseingang gemahnt an den bekanntesten Autor der Stadt, ansonsten pulsiert das Leben im Stadtteil längst auf einer anderen Ebene. Ladenlokale, Neueröffnungen, ein Gastro-Mix aus Alteingesessen und neu Hinzugekommen – die Neustadt bietet in weiten Bereichen eine Vielfalt, die nicht erzwungen werden kann.

Aber wo sie ausfasert, an den Rändern, da kann sie auch heute noch anders. Roh, ungeschminkt, unprätentiös. Am Hansaring, an der Krefelder Straße, am Bauwagen-Platz – Überreste einer Zeit, von der die Stadt heute am liebsten nichts mehr wissen will. Und die doch mancherorts den Grundstock gelegt hat zu eben jenem großstädtischen Flair, dem man heute vielerorts vergebens nachjagt.

Geschichte der Neustadt-Nord

Entstanden ist die Neustadt-Nord nach den Plänen von Josef Stübben. Nach dem Abriss der mittelalterlichen Stadtmauer und der vorgelagerten Wallanlagen ab 1880 wurde wenige Meter vor dem Verlauf der Mauer ehedem ein Prachtboulevard – die heutigen Ringe – gebaut, der die ganze Altstadt  umschließt.   Am Ebertplatz,  Anfang der Neusser Straße – ehemals Teil der nördlichen Ausfallstraße der römischen Stadt – liegt Kölns zweitgrößte Kirche, St. Agnes.  Sie wurde auf Wunsch des Stifters Peter Joseph Roeckerath zur Erinnerung an seine verstorbene Frau Agnes der heiligen Agnes geweiht. Kürzlich wurde ein Teil des ehemaligen Neusser Platzes nach Peter Joseph Roeckerath und seiner Frau  Agnes benannt.   Die Brüsseler Straße und die Moltkestraße im Belgischen Viertel waren einst Teil des mittelalterlichen Bischofswegs. Der  nördliche Teil der Brüsseler Straße zwischen Antwerpener  und Venloer Straße verläuft auf dem alten mittelalterlichen Bischofsweg, der mittlere Teil zwischen Aachener Straße und Antwerpener Straße auf dem neuen Bischofsweg. Die Bezeichnung „Belgisches Viertel“ entstammt den Straßennamen – wobei sich mit Maastricht und Utrecht auch zwei niederländische Namen „eingeschlichen“ haben.

Baustellen in der Neustadt-Nord

Parkplätze, Verkehr – die Leier ist immer dieselbe. In der Innenstadt aber vielleicht noch eine Nummer lauter als in anderen Veedeln. Zu wenig Parkplätze oder zu viele Autos? Darüber ist in manchen Bereichen inzwischen ein regelrechter Glaubenskrieg ausgebrochen. Die Fronten verhärten sich zunehmend, auch, weil die stetig wachsende Zahl an Radfahrern immer mehr Rechte einfordert. Lärm in der Großstadt ist immer ein heikles Thema. Die Stadt soll nun laut Gerichtsbeschluss am Brüsseler Platz abends für Ruhe sorgen. Allerdings ist bislang noch völlig unklar, wie sie das bewerkstelligen soll.   Ein Dauerthema ist auch die Mieterstruktur. Angebot und Nachfrage – viele „Alteingesessene“ bleiben auf der Strecke, weil sie die Mieten nicht mehr zahlen können. Dadurch verändert sich das Viertel. Es gibt aber auch Hausbesitzer, die genau aus dem Grund die Mieten nicht komplett ausreizen und auf eine „gesunde“ Mischung setzen.

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