Armutsbericht Kreis Euskirchen6500 Bedürftige werden von Tafeln versorgt

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Dass es manchen ihrer Kunden schwerfällt, die Hilfe anzunehmen, versteht Carmen Schulte. Die Mitarbeiterin im Mechernicher Tafel-Team kennt dieses Gefühl aus eigener Erfahrung.

Dass es manchen ihrer Kunden schwerfällt, die Hilfe anzunehmen, versteht Carmen Schulte. Die Mitarbeiterin im Mechernicher Tafel-Team kennt dieses Gefühl aus eigener Erfahrung.

  • Im Kreis Euskirchen nehmen rund 6500 Bedürftige regelmäßig die Essensausgabe der Tafeln in Anspruch.
  • Wir haben mit Betroffenen, Ehrenamtlichen und Verantwortlichen gesprochen.
  • Sie erzählen, wie es ist mit 841 Euro im Monat zu leben und was sich ändern muss. Der Armutsbericht.

Kreis Euskirchen – Es ist schlimm, dass es in einem so reichen Land wie Deutschland die Tafeln geben muss. Aber gut, dass es sie gibt. An diesem Dienstag, es ist kurz nach 10 Uhr am Vormittag, zeigt sich mit Blick auf die Warteschlange vor dem langen Ausgabe- und Pack-Tresen in Mechernich die Wahrheit dieses Satzes. Rund 370 Menschen besuchen regelmäßig die Lebensmittelausgabe der 2004 eingerichteten Tafel in der Alten Schule. Kreisweit sind es rund 6500 Bedürftige in sechs Tafeln. Rechnet man die Dunkelziffer dazu, dürfte sich die Zahl nach Einschätzung der Verantwortlichen verdoppeln – mindestens.

Team aus 40 Ehrenamtlichen

Das Team aus 40 Ehrenamtlichen betreut seine Kunden dienstags und freitags zwischen 10 und 13 Uhr. Brot, Butter, Wurstwaren und Konserven – Grünes gibt es auf Wunsch obendrauf. Dazu kann Spezielles kommen: etwa Chargen an Schokolade, die gerade ein Tafel-Mitarbeiter mit dem Kühlwagen in Aachen abgeholt hat.

Ein Plausch mit den Bedürftigen gehört fürs Tafel-Team dazu.

Ein Plausch mit den Bedürftigen gehört fürs Tafel-Team dazu.

Günter F. ist 78 Jahre alt. Er möchte seinen vollen Namen nicht nennen. Der Witwer aus dem Südkreis war bis zur Rente Arbeiter. Doch das Altersruhegeld für ihn und eines seiner vier Kinder, das seit ein paar Jahren wieder bei ihm lebt, ist einfach zu gering – trotz vieler Jahre Arbeit. Seit drei Jahren kommt Günter F. zur Mechernicher Tafel. „Der erste Besuch war schwer für mich. Hier kennt mich doch jeder. Ich habe hin und her überlegt: Gehst du rein oder nicht?“

Heute ist Günter F. froh, dass er sich getraut hat. Er ist dankbar für die Hilfe. Die Tafel ist eine große Unterstützung, die ihn pro Besuch 50 Cent kostet. Familien zahlen maximal 2,50 Euro. Die Hilfe erhält, wer ein Anrecht darauf hat. Durch den Arbeitslosengeld-II-Bezug, Wohnberechtigungsschein oder den Rentenbescheid wie bei Günter F. kann die Bedürftigkeit nachgewiesen werden.

841 Euro im Monat

Günter F. bekommt weniger als die 814 Euro, die als Grundsicherungsschwelle definiert sind. 8,6 Millionen Rentner fallen wie er unter diese Grenze. Und die Zahl wird mit dem Erreichen der Altersgrenze der geburtenstarken Jahrgänge absehbar weiter steigen. Beispiele wie diese kennt Wolfgang Weilerswist zu Genüge. Er ist nicht nur Leiter der Tafeln im Kreisgebiet, sondern auch des Landesverbands und Mitglied im Bundesvorstand. „Der Anteil der 60- bis 80-Jährigen, die zu uns kommen, liegt jetzt schon bei 30 bis 35 Prozent“, so Weilerswist: „Und sie steigt seit neun Jahren jährlich um zehn Prozent an. Das wurde nur zwischen 2015 und 2017 durch die Flüchtlinge, die vermehrt kamen, etwas verdeckt.“

Froh ist Günter F., sein Schamgefühl überwunden zu haben.

Froh ist Günter F., sein Schamgefühl überwunden zu haben.

Die Gründe sind bekannt. Neben niedriger Rente, etwa bei nur kurz Vollzeitbeschäftigten oder Alleinerziehenden, sind Niedriglohn und Teilzeitbeschäftigung Armutsrisiken. Experten rechnen auch den gesetzlichen Mindestlohn dazu. „Die 40- bis 50-Jährigen, die vielleicht nur 21 Wochenstunden arbeiten, werden als 60- bis 65-Jährige zu uns kommen“, so Weilerswist. Dazu kommt die Überschuldung aus den verschiedensten Gründen. Dann kann die Tafel eine Rettung sein.

Aus der Not zum Helfen

Carmen Schulte, 67 Jahre alt, kennt beide Seiten der Ausgabetheke der Tafel: „Mein Mann und ich sind selbst aus Not hierher gekommen.“ Die Renten von beiden – sie hatte nur eine kleine Erwerbsminderungsrente – reichten schlicht nicht aus. Heute ist die Kalenbergerin im Ehrenamtler-Team und packt gerade große Tüten mit Lebensmitteln voll, die Lara, Fatih und Tobi in einer Ecke sicher verstauen. Es sind Lebensmittel für Flüchtlinge, die zu den Ausgabezeiten im Integrationsunterricht sitzen.

Die Tafeln im Kreis Euskirchen

Im Kreisgebiet gibt es sechs Tafeln. In Euskirchen wurde 1999 die erste gegründet, bis 2004 kamen weitere Standorte in Weilerswist, Zülpich, Bad Münstereifel, Kall und Mechernich dazu. In NRW, dem größten Tafel-Landesverband in Deutschland, sind 174 Ausgabestellen für 450 000 bis 500 000 Menschen eingerichtet. Bundesweit sind rund 930 Tafeln für um die 1,65 Millionen Bedürftige da. Die Tafeln im Kreis sind eingetragene Vereine. Deutschlandweit sind sie häufig Sozialverbänden wie Caritas oder DRK angeschlossen. Die Ursprungsidee war gar nicht die Versorgung, sondern die Rettung von Lebensmitteln, die noch für den Verzehr geeignet sind. 2018 wurden 17 Millionen Tonnen vernichtet, von denen zehn Millionen das Mindesthaltbarkeitsdatum noch gar nicht erreicht hatten, oder – gefahrlos für den Konsumenten – nur kurz überschritten hatten. 264 000 Tonnen davon kamen im vergangenen Jahr zu den Tafeln. (sli)

Die drei 13-Jährigen vom Gymnasium am Turmhof machen ein Praktikum bei der Tafel. Was in die Tüten kommt, ist vorsortiert nach kulturellen und religiösen Besonderheiten der Flüchtlinge. Muslime erhalten Lebensmittel ohne Schweinefleisch, Flüchtlinge aus Afrika, die kein dunkles Brot essen, werden Weißbrot in ihrer Tüte finden. „Wir haben Angst, selbst einmal in eine solche Lage zu kommen“, sagen die drei Schüler übereinstimmend.

Und wenn es die Tafeln nicht gäbe? „Dann würde es für mich eng. Auch meine Rente ist zu gering.“ Peter M., der ebenfalls seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, sieht die Lage nüchtern. Hungern muss er nicht – dafür gibt es die Tafeln.

Der rostende Kühlwagen bereitet Wolfgang Weilerswist Sorgen.

Der rostende Kühlwagen bereitet Wolfgang Weilerswist Sorgen.

Doch Weilerswist hält die steigende Zahl der Bedürftigen auch für ein Risiko für die Hilfe selbst: Man sei bei allen sechs Tafeln im Kreis an der Kapazitätsgrenze. Aktuelle Probleme kommen dazu. Ein neuer Tiefkühlwagen, der Verderbliches vom zentralen Lager in Mechernich zu den sechs Tafeln bringt, muss her. Das Fahrzeug, zehn Jahre alt, roste so stark, dass eine Reparatur kaum Sinn mache. Das habe ihm die Werkstatt mitgeteilt, so der Tafel-Chef. Nun will er die Bürgerstiftung der Kreissparkasse fragen, ob sie, wie vor zehn Jahren, den Helfern hilft. Kostenpunkt: 60 000 Euro.

Weilerswist, auch stellvertretender Bürgermeister von Mechernich, ist bekannt, für den guten Zweck „kötten“ zu können. „In Mechernich gibt es keinen Laden, der unserer Tafel nichts geben würde“, sagt er. Das Talent hilft ihm auch, wenn er Ehrenamtliche für die Ausgabestellen braucht. Dann wirbt er schon mal in einem Gottesdienst: „Am Ende bleiben immer einer oder zwei, die mitmachen.“

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