In Corona-Krise vergessenGehörlose Weilerswisterin macht auf Probleme aufmerksam

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Fühlte sich zeitweise schlechter informiert als Menschen, die hören: Christina Sohn, hier mit Tochter Leana und Gebärdensprachdolmetscherin Claudia Dubbelfeld (l.).

Fühlte sich zeitweise schlechter informiert als Menschen, die hören: Christina Sohn, hier mit Tochter Leana und Gebärdensprachdolmetscherin Claudia Dubbelfeld (l.).

  • Für Gehörlose ist es in Corona-Zeiten schwierig, an Informationen zu gelangen.
  • Hierzulande werden wesentliche Informationen über Covid-19 oft nur in deutscher Schriftsprache und Lautsprache vermittelt, womit sie für Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderungen nicht oder nur schwer zugänglich sind.
  • Weilerswisterin Christina Sohn berichtet von Problemen und klärt über Kommunikationsbarrieren auf.

Weilerswist – Als Kanzlerin Angela Merkel im März ihre Ansprache hielt, um auf die Pandemie einzuschwören, war die elfjährige Leana Dolmetscherin – im Wohnzimmer neben dem Fernseher. Die Sechstklässlerin übersetzte in die Deutsche Gebärdensprache (DGS), damit ihre gehörlose Mutter Christina Sohn teilhaben konnte an der Rede an die Nation.

Tatsächlich sind Gehörlose in der Pandemie in Vergessenheit geraten. Zumindest in Deutschland – in anderen Ländern ist der im Bildschirm eingeblendete Gebärdendolmetscher schon lange Standard. Hierzulande werden wesentliche Informationen über Covid-19 oft nur in deutscher Schriftsprache und Lautsprache vermittelt, womit sie für Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderungen nicht oder nur schwer zugänglich sind.

Scheu muss weg

Schrift- und Lautsprache ist für Gehörlose eine Fremdsprache – was Kommunikation zwischen Hörenden und Nichthörenden erschwert. „Ich habe mir ein dickes Fell wachsen lassen und zeige im Alltag sehr deutlich, welche Bedürfnisse ich habe“, sagt Christina Sohn. Die 38-Jährige greift bei Kommunikationsbarrieren mit Hörenden gerne zum Handy und tippt den Inhalt dessen, was sie sagen möchte, ein.

Gehörlose

Etwa 80 000 Gehörlose leben in Deutschland. Viele kommunizieren mit der Deutschen Gebärdensprache (DGS), die seit 2002 als eigenständige, vollwertige Sprache gesetzlich anerkannt ist. Gebärdensprache besitzt eine eigene Grammatik, die sich von der deutschen Lautsprache unterscheidet. Mit den Händen wird vor dem Körper gebärdet, darüber hinaus spielen Körperhaltung und Mimik eine große Rolle. In der DGS gibt es auch Dialekte, genau wie im gesprochenen Deutsch.

Der Deutsche Gehörlosen-Bund empfiehlt Hörenden für die Kommunikation mit Gehörlosen beispielsweise Stift und Papier zu verwenden. Auch gibt es Spracherkennungsprogramme als App auf dem Smartphone. Für wichtige Gespräche, etwa mit medizinischem Personal, sollten DGS-Dolmetscher miteinbezogen werden. (hn)

„Die Scheu, miteinander zu kommunizieren, muss weg. Auf beiden Seiten“, so die Mutter zweier hörender Kinder. Corona habe vieles erschwert, aber auch manches erleichtert: Hörende, die einen Mund-Nasenschutz tragen, setzen automatisch mehr Gesten ein, wenn sie sprechen. Das macht es Gehörlosen leichter, ihr Gegenüber zu verstehen. „Überhaupt habe ich das Gefühl, dass sich seit Corona alle mehr Mühe geben im Umgang mit uns Gehörlosen“, so Sohn.

Mimik und Mundgestik sehr wichtig

Das berichtet auch Helga Hopfenzitz, Gebärdensprachdozentin aus Weilerswist: „Interessant und merkwürdig zugleich ist, dass sich hörende Menschen mit Masken jetzt mehr bemühen, mit uns zu kommunizieren, als vor Corona.“ Fälschlicherweise würden viele denken, der Mund-Nasenschutz sei vor allem ein Problem für Gehörlose, weil diese nicht von den Lippen lesen könnten.

„Für uns Gehörlose ist es viel wichtiger, Gesicht, Mimik und Mundgestik in Gänze erfassen zu können“, so Hopfenzitz, die DGS-Kurse für Hörende anbietet. Faceshields wären eine gute Alternative, jedoch könne man nicht jedem abverlangen, ein solches zu tragen.

Inklusionsscheck

Der Inklusionsscheck NRW ist ein Förderprogramm des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales zur Unterstützung der Inklusion vor Ort. Damit sollen Initiativen zur Teilhabe und Begegnungen von Menschen mit und ohne Behinderung unterstützt werden.

Die Aktivitäten können inklusive Veranstaltungen mit Dolmetschern für Gebärdensprache, inklusive Vorhaben in Kirchengemeinden, Informationen in leichter Sprache, die Erstellung einer barrierefreien Internetseite und vieles mehr sein. Während der Corona-Pandemie bietet die Förderung die Möglichkeit, digitale Maßnahmen zur Umsetzung von Inklusion zu etablieren. 2020 werden 300 Schecks in Höhe von 2000 Euro für inklusive Aktivitäten zur Verfügung gestellt. Die Fördermittel können online beantragt werden. (eb)

www.inklusionsscheck.nrw.de

Für Christina Sohn waren die zurückliegenden Monate „eine richtig schlimme Zeit“. Wie für andere berufstätige Mütter schulpflichtiger Kinder auch, wurden die Regeln und Einschränkungen zu einer harten Belastungsprobe. Zusätzlich fühlte sich die 38-Jährige „auf verlorenem Posten“, gab es doch für sie und ihren Mann zunächst wenig Zugang zu Informationen. „Vieles lief über die Kinder, was wir normalerweise vermeiden. Sie sind schließlich Kinder, keine Dolmetscher.“

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In der Gehörlosenwelt sei man gut vernetzt, und so lief anfangs der Informationsfluss über die Pandemie überwiegend über soziale Netzwerke. Ehrenamtlich übersetzten Dolmetscher dort wichtige Infos in DGS. Die Gehörlosen-Landesverbände mühten sich ebenso, Nachrichten aufzubereiten. Sohn: „Die Sondersendungen im Fernsehen waren immerhin untertitelt, aber man darf nicht vergessen: Für uns Gehörlose sind diese Texte in einer Fremdsprache.“ Ihnen zu folgen, sei sehr anstrengend. Längst habe sie in dieser Zeit nicht alles mitbekommen, was wichtig gewesen wäre.

Schwierig wurde es auch beim Austausch mit der Schule und den Lehrern. Tochter Leana übersetzte Mails und half, Antworten zu schreiben. „Für mich ist die Gebärdensprache meine Muttersprache“, sagt sie. In der Rolle der Dolmetscherin aber fühlt sie sich nicht so wohl.

Dass eine Regierungsansprache wie die der Kanzlerin Gehörlose exkludiert habe, zeige, wie wenig man Menschen mit dieser Behinderung auf dem Schirm hat. „Bei Barrierefreiheit denken alle automatisch an Rollstuhlrampen und Blindenleitlinien im Asphalt“, so die Buchhalterin: „Blinde und Rolli-Fahrer fallen in der Gesellschaft auf. Wir sehen ganz normal aus und sind nur still. Dadurch werden wir leider schnell vergessen.“

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