Weitere 28 StolpersteineErinnerung an Euskirchener Opfer des NS-Regimes

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Sechstklässler der Gesamtschule trugen Texte über die Familie Orchan vor. Gabriele Rünger (2.v.l.) hatte die Recherche-Arbeit geleistet.

Sechstklässler der Gesamtschule trugen Texte über die Familie Orchan vor. Gabriele Rünger (2.v.l.) hatte die Recherche-Arbeit geleistet.

Euskirchen – Babette Samuelsohn war 76 Jahre alt, als Nationalsozialisten sie am 15. Juni 1942 aus ihrer Wohnung in der Baumstraße 8 in Euskirchen abholten. Die jüdische Witwe wurde nach Deutz gebracht und von dort in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie am 2. Oktober desselben Jahres starb.

Gedenken

Die 28 Stolpersteine, die Gunter Demnig am Mittwoch verlegte, erinnern neben den Familien Samuelsohn, Rothschild, Orchan, Marx und Schweizer auch an folgende NS-Opfer: Heinrich, Rosa und Rosa-Franziska Spickermann (Wilhelmstraße 37) sowie Isidor, Sofia, Johanna und Martha Meyer (Viktoriastraße 14).

Zum Abschluss der Aktion lud die evangelische Kirchengemeinde zum Gedenken und zu Gesprächen in ihr Gemeindezentrum ein. Dort standen auch Ansprachen von Pfarrer Frank Thönes, seinem katholischen Kollegen Max Offermann und Bürgermeister Dr. Uwe Friedl auf dem Programm. (ejb)

Die alte Frau hatte eigentlich im Haus Mittelstraße 24 gewohnt, doch im Oktober 1940 zwangen die Nazis sie und ihren Sohn Friedrich Wilhelm zum Umzug in die Baumstraße. Friedrich Wilhelm, geboren 1906, ist einer der 65 Euskirchener Juden, die im Juli 1942 von Deutz aus in einem Zug nach Polen gebracht wurden. Dort verlud man sie in Viehtransporter und fuhr sie nach Minsk im heutigen Weißrussland.

Bei der Ankunft warteten Lastwagen auf die Überlebenden, darin ging es weiter in ein Waldstück bei Maly Trostinec. „Diese Lastwagen waren mit Gaskammern ausgestattet. Wer die Fahrt überlebt hatte, wurde bei der Ankunft erschossen.“ So hat es Dr. Gabriele Rünger recherchiert, die Leiterin des Euskirchener Stadtarchivs.

Gedenken an die Opfer des NS-Regimes

Das Schicksal von Babette und Friedrich Wilhelm Samuelsohn sowie weiterer Juden schilderte sie am Mittwoch, als Gunter Demnig in Euskirchen zum achten Mal Stolpersteine verlegte, um an Opfer des NS-Regimes zu erinnern. Der Berliner Künstler ließ die Quader mit Gedenktafeln aus Messing vor dem jeweiligen letzten selbst gewählten Wohnort der Frauen, Männer und Kinder in den Boden ein.

„Wir erinnern damit an Menschen, die entrechtet, verfolgt, diskriminiert und deportiert wurden, oft auch ermordet“, sagte Rünger in der Mittelstraße, wo auch der frühere Stadtdirektor Dr. Heinrich Blaß das Wort ergriff. Er kannte die Familie Samuelsohn, weil er in der Nähe aufgewachsen ist.

Schicksale einzelner, damals in Euskirchen lebender Juden

Ihr Verschwinden sei für ihn und andere Kinder ein Thema auf dem Schulhof gewesen, sagte Blaß. „De Jödde sen all fott“, habe es dort geheißen: Die Juden sind alle weg.

Dies galt auch für Ernst Simon Rothschild, seine Ehefrau Edith und die fünfjährige Tochter Bela, die ebenfalls mit dem Zug nach Maly Trostinec in den Tod geschickt wurden. Sie hatten mit ihrer Familie in einer Villa in der Alten Gerberstraße gelebt. Ernst Simons Vater Gottlieb Rothschild wurde am 19. September 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet.

212 Gedanktafeln insgesamt in Euskirchen

Auch für die Rothschilds verlegte Demnig Stolpersteine. In Euskirchen sind es mittlerweile insgesamt 212 der Gedenktafeln, auf denen Name, Geburtsjahr, Deportationsdaten und Todeszeitpunkt festgehalten sind.

Die Steine, die Demnig in den vergangenen Jahren in der Kernstadt ins Pflaster eingelassen hat, waren zu Beginn der Woche auf Hochglanz poliert worden – von Mädchen und Jungen der Euskirchener Gesamtschule.

Sechstklässler haben sich mit der Geschichte ermordeter Juden befasst

Die Sechstklässler hatten sich in drei Klassen mit den Stolpersteinen, den Hintergründen und den NS-Opfern befasst. „Die Kinder kennen jetzt die Geschichte der Familien“, sagte Lehrerin Kirsten Steiner, die das Projekt federführend betreute. „Viele der Schüler stammen aus Familien, die ihre Wurzeln im Ausland haben.

Wir finden es wichtig, dass sie unsere Erinnerungskultur übernehmen und wissen, dass es Zeiten gab, in denen hier Menschen wegen ihrer Religion verfolgt wurden.“ Steiner erzählte auch, wie die Sechstklässler „auf den Knien lagen“, um die Stolpersteine zu schrubben: „Das war ein wunderbares Miteinander.“

Klassen finanzierten drei Stolpersteine

Die drei Klassen hatten als Paten drei Stolpersteine finanziert, und zwar jene für drei Kinder: Felix, Hanna und Leo Orchan, die mit ihren Eltern Jakob und Lisa in der Hochstraße 40 wohnten. Vater Jakob starb 1933 unter fragwürdigen Umständen in der Heil- und Pflegeanstalt Bonn, seine Witwe und die Kinder wurden nach Polen gebracht. Während sich die Spur von Lisa und Leo Orchan dort verliert, sodass sie für tot erklärt wurden, gelangten Felix und Hanna nach England, wo sie das NS-Regime überlebten.

Drei Gesamtschüler trugen vor dem Haus Hochstraße 40, in dem heute das Kino Galleria Arthouse untergebracht ist, die Geschichte der Orchans vor. Kino-Chef Sebastian Arenz ließ allen, die Demnig zum Teil über Stunden hinweg beim Verlegen der Steine begleiteten, mit Mineralwasser versorgen. Die Kinder lud er zusätzlich zu Popcorn ein.

Besuch aus England und Hamburg zur Verlegung der Stolpersteine in Euskirchen

Ein paar Häuser weiter, in der Hochstraße 56, lebte früher die Familie Marx. Isidor Marx und sein Sohn Erich wurden 1938 ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. Nach ihrer Entlassung verließen sie und Isidors Ehefrau Berta Deutschland in Richtung Trinidad, wo sie ein Gästehaus für neu ankommende jüdische Flüchtlinge aufbauten.

Erich Marx’ Sohn David war zur Stolpersteinverlegung mit Ehefrau Daniela, Tochter Deborah und deren Partner Tom Cridland aus England nach Euskirchen gekommen. Sein Sohn Daniel reiste aus Hamburg an.

Es sei gut und wichtig, Menschen zusammenzubringen, um die Erinnerung an die Opfer der Nationalsozialisten wach zu halten, sagte David Marx. Und: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Fehler der Vergangenheit nicht wieder passieren.“

Gäste aus den USA reisten ebenfalls für die Verlegung der Stolpersteine an

Eine noch viel längere Anreise hatten David L. Schweizer, seine Frau Nora und die Töchter Jessica und Emily. Sie leben in Oakland im US-Bundesstaat Kalifornien und wollten dabei sein, als Demnig vor dem Haus Baumstraße 7 Stolpersteine für Moses, Julia, Siegfried, Moritz, Carolina und Rosalie Schweizer im Gehweg verankerte.

Einem Teil der Familie gelang die Flucht vor den Nazis. Siegfried Schweizer emigrierte in die USA. Sein Enkel David L. Schweizer sagte am Mittwoch: „Ich bin sehr dankbar, dass die heutigen Generationen in Deutschland in dieser Form gedenken – gerade in einer Zeit, in der so viel Hässliches in der Welt passiert.“

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