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Nach Explosion in Leverkusen„Mein erster Gedanke, es ist ein Anschlag“

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Löscharbeiten Leverkusen

Nach der Explosion in einer Müllverbrennungsanlage geht die Suche nach Vermissten weiter. 

Leverkusen – „Mein erster Gedanke war, es ist ein Anschlag“, erzählt Rentner Sigfried Fieth am Tag nach der verheerenden Explosion in einer Müllverbrennungsanlage im Leverkusener Chempark mit zwei Toten und 31 Verletzten, fünf Personen werden noch vermisst. Der 68-jährige gelernte Altenpfleger war im Rewe-Markt in Bürrig einkaufen, als es passierte. Alle Menschen um ihn seien vor Schreck zusammengezuckt und hätten sich umgeschaut. „Die Druckwelle der Explosion war enorm“, berichtet Fieth.

In Wiesdorf, nur etwa einen Kilometer vom Unglücksort entfernt, putzte sich der neunjährige Achmed Lieuat im Badezimmer die Zähne. „Ich bin sofort zum Fenster gerannt, wo ich die riesige dunkle Rauchwolke gesehen habe“, erzählt er. Zum Spielplatz konnte Achmed an diesem Tag nicht gehen. Die Stadt Leverkusen hatte die Menschen aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Auch am Mittwoch blieben die Spielplätze aus Sicherheitsgründen noch abgesperrt.

Toxikologe sieht keine akute Gefahr für Bevölkerung

„Ich habe pausenlos mit meiner Familie telefoniert und mit Freunden WhatsApp-Sprachnachrichten verschickt“, erzählt Lorena G. (28) bewegt. Nach der Explosion sei kein Mensch mehr auf den Straßen unterwegs gewesen.

450 Einsatzkräfte

Die Brandbekämpfung und die Warnung der Bevölkerung habe gut funktioniert, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul am Mittwoch im Innenausschuss des Landtages. In der Spitze seien bis zu 250 Feuerwehrkräfte und 200 Polizeibeamte nach der verheerenden Explosion im Leverkusener Chempark am Dienstag im Einsatz gewesen. In Gedanken sei er bei den Angehörigen und Freunden der Toten, Vermissten und Verletzten, betonte Reul. „Irgendwie erwischt es uns im Land reichlich.“ (dpa)

Alle hatten Fenster und Türen geschlossen und warteten ab. „Es war fast ein bisschen gespenstisch“. Eine Vorsichtsmaßnahme: Die Frage einer möglichen Gesundheitsgefährdung ist noch nicht abschließend geklärt.Das nordrhein-westfälische Landesumweltamt (LANUV) teilte mit, man gehe „derzeit“ davon aus, dass über die freigesetzte Rauchwolke „Dioxin-, PCB- und Furanverbindungen“ in die umliegende Wohngebiete getragen worden seien.

Die Ursache für die Detonation ist noch unklar. Die Staatsanwaltschaft hat ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung eingeleitet. Zudem werde wegen fahrlässigen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion ermittelt, teilte die Behörde am Mittwoch mit. Der Vorwurf richte sich gegen unbekannt.

Nach Angaben der Ermittler ist das Betreten des Areals „weiterhin nur stark eingeschränkt möglich“. Um sich einen Überblick zu verschaffen, würden Drohnen eingesetzt. Mehrere Sachverständige unterstützten die Ermittlungen. „Der Einsatz von Feuerwehr und Polizei am Brandort wird aller Voraussicht nach noch mehrere Tage andauern“, hieß es.

Nach dem Unglück hatten Tanks gebrannt, in denen nach Angaben von Currenta „organische Lösungsmittel“ gelagert waren. Anschließend stieg eine riesige Rauchwolke auf, Rußpartikel gingen auf nahe gelegene Ortschaften nieder. Unklar war zunächst, welche Stoffe sich genau im Rauch befunden hatten. Die Stadt Leverkusen empfahl ihren Einwohnern unter anderem, kein Obst oder Gemüse aus dem Garten zu essen, auf dem sich Rußpartikel abgelagert hatten.

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Das LANUV erklärte, nach seinen Informationen seien in den betroffenen Tanks unter anderem chlorierte Lösungsmittel gelagert worden. „Die besondere Problematik bei Stoffen, die Chlor beinhalten, ist, dass bei einem Verbrennungsprozess Chlorverbindungen zu Dioxin- oder PCB-Verbindungen werden können“, erläuterte ein Sprecher. In welcher Konzentration dies tatsächlich geschehen sei, werde aktuell noch in einem eigenen Dioxinlabor untersucht. „Diese Untersuchungen sind recht aufwendig, daher werden die Ergebnisse nicht vor Ende dieser Woche vorliegen“, so der Sprecher weiter.

Currenta reinigt Straßen, Gehwege und Hauseingänge

Die Frage nach der Konzentration ist entscheidend. „Dioxin,- PCB- und Furanverbindungen werden durchaus in Zusammenhang gebracht mit Missbildungen bei Neugeborenen von Tieren, weniger beim Menschen, als Umweltöstrogene oder auch Krebs erregende Substanzen beim Menschen“, sagte Daniel Dietrich, Leiter der Arbeitsgruppe Human- und Umwelttoxikologie an der Universität Konstanz, der Deutschen Presse-Agentur. „Aber – und das ist das große Aber – nur in hohen Konzentrationen. Und die liegen nicht vor, wenn das entsprechende Gebiet im Laufe der Zeit gereinigt und dekontaminiert wird.“

Dioxine, Furane und PCB

Dioxine, Furane und PCB (Polychlorierte Biphenyle) sind im allgemeinen Sprachgebrauch einander chemisch ähnliche Chlor-Kohlenwasserstoffverbindungen. Aber auch Verbindungen mit Brom- oder Fluoranteilen können Dioxine und Furane sein.

Das giftigste Dioxin ist das „Seveso-Gift“ mit der Kurzbezeichnung 2,3,7,8 TCDD, das 1976 bei einem Chemieunfall in Norditalien freigeworden war. PCB wurden bis 2001 industriell genutzt, dies ist heute weltweit verboten. Wie Dioxine und Furane entstehen sie auch als unerwünschtes Nebenprodukt bei der Verbrennung von organischem Material. Bei Temperaturen über 1000 Grad zerfallen sie. Deshalb arbeiten Müllverbrennungsanlagen in diesem Temperaturbereich. (rn)  

Die Stoffe klebten an Oberflächen, sagte er. „Sie springen einen nicht an, man müsste sie schon aktiv in den Körper transportieren – etwa, wenn man sich nach der Arbeit im Garten die Hände abschleckt.“ Selbst wenn man von oben bis unten mit den Partikeln bedeckt wäre, könnte man diese ohne Gefahr mit Seife abwaschen. „Nach meiner Einschätzung besteht also keine akute Gefahr für die Bevölkerung, wenn sie sich an die Handlungsempfehlungen des Landesumweltamtes und der anderen involvierten Behörden hält“, sagte Dietrich.

Da die endgültige Analyse zunächst noch ausstand, hielt die Stadt Leverkusen ihre Empfehlungen an die Bürger aufrecht. Der Ruß sollte nicht in die Wohnung getragen werden. Neben Obst und Gemüse seien in den betroffenen Arealen etwa auch Gartenmöbel oder Pools zu meiden. Wer dringend im Garten arbeiten müsse, sollte dabei vorsorglich Handschuhe tragen. Bereits am Dienstag hatte die Kommune erklärt, Currenta werde „zeitnah die Straßen, Gehwege und Hauseingänge reinigen“.

Am Unglücksort im Chempark ging die Suche nach den Vermissten am Mittwoch weiter. Die Hoffnungen aber, Überlebende zu finden, schwanden auf ein Minimum. „Wir müssen leider davon ausgehen, dass wir die fünf Vermissten nicht lebend finden werden“, sagte Currenta-Chef Frank Hyldmar. Es handele sich um vier Mitarbeiter seines Unternehmens und einen Mitarbeiter einer externen Firma.

(mit dpa)

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