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„Besser gestern als morgen“Oberbergische Familie fordert neues Verkehrskonzept

Lesezeit 5 Minuten
Ob Bus, Auto oder Fahrrad: Familie Kühn nutzt viele Verkehrsmittel.

Ob Bus, Auto oder Fahrrad: Familie Kühn nutzt viele Verkehrsmittel.

Oberberg – Das Unwetter, das am 14. Juli über das Land gekommen ist, hat mit dem Klimawandel zu tun, daran hat Andreas Kühn (41) keinen Zweifel. Er sieht dringenden Handlungsbedarf, auch beim Verkehr. „Besser gestern als morgen“ müsse man auf die menschgemachte Erderwärmung reagieren.

Aber ob die Rezepte der Bundespolitik für einen ländlichen Raum wie Oberberg funktionieren, da ist sich Kühn weit weniger sicher. „Die Politiker sitzen mitten in Berlin und sehen nicht, welche Probleme wir hier auf dem Dorf haben. Die Hälfte der Menschen in Deutschland wohnt aber nicht in der Stadt.“

Nahbereich ist in vielen Dörfern schlecht ausgestattet

Andreas Kühn lebt mit seiner Familie in Wildbergerhütte, wo er das Haus ausgebaut hat, in dem er selbst aufgewachsen ist. Er kann sich noch daran erinnern, dass seine Eltern lange mit einem einzigen Auto auskamen. Die Mutter hat mit ihren Fahrten gewartet, bis der Vater nach Feierabend aus dem Gummersbacher Büro heimkam. Notfalls kämen die Kühns auch heute mit nur einem Auto zurecht.

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Bundestagswahlen in Oberberg

Heute in zwei Monaten ist alles schon vorbei – sogar die Pressekonferenzen am Tag nach der Wahl mit Siegern und Verlierern. Am 26. September wird auch in Oberberg der Bundestag gewählt und danach steht auch fest, wer von den Kandidatinnen und Kandidaten, die sich zur Wahl stellen, das Direktmandat geholt hat und den Kreis in den kommenden vier Jahren in Berlin vertreten wird – und wer vielleicht stattdessen noch über die Landesliste ins Parlament rutscht.

Aber was kann sie oder er da in der Hauptstadt überhaupt bewegen? Und was sind die wichtigsten Themen für das Oberbergische? Was bedeutet zum Beispiel die Debatte über den Klimawandel, über neue Formen von Mobilität, über das Gesundheitssystem in und nach der Pandemie, aber auch über innere Sicherheit ganz konkret für das Leben, Arbeiten und Wirtschaften im Oberbergischen?

In dieser Diskussion wollen wir aber auch wissen, wie die Oberberger selbst das sehen. Deshalb kommen natürlich auch die Kandidatinnen und Kandidaten zu Wort, aber nicht nur: Wir sprechen mit den Menschen vor Ort.

Sylvia Kühn (43) arbeitet als IT-Fachkraft im Homeoffice. Und seit im Juli das Glasfaserkabel freigeschaltet wurde, fluppt das Internet. Sohn Niklas (12) fährt mit dem Bus zum Waldbröler Gymnasium, die Grundschule von Junior Julian (8) ist fußläufig erreichbar.

Ohnehin hat der Nahbereich in Wildbergerhütte viel zu bieten. Das findet zumindest Sylvia Kühn, die immerhin in der Ruhrgebietsstadt Gladbeck aufgewachsen ist. Im Dorf gibt es Ärzte und Restaurants, der Aldi ist weniger als 200 Meter entfernt. Viele Dörfer im Reichshof sind weitaus schlechter ausgestattet. Aber auch die Tankstelle würden die Kühns vermissen.

Leben auf dem Dorf ganz ohne Auto sei schwer vorstellbar

Mit dem zweiten Wagen gäben sie eine Menge Flexibilität auf. Denn manchmal verpasst Sohn Niklas den Schulbus, und nachmittags muss er zum Gitarrenunterricht in Waldbröl. Zwar haben die Kühns eine Haltestelle direkt vor der Haustür. Aber wenn man ihn braucht, fährt der Bus nicht, und wenn, dann nur nach Waldbröl oder Eckenhagen. Auch seine Mutter, merkt Andreas Kühn an, hatte dann in den 1990er Jahren einen eigenen Wagen.

Ein Leben ganz ohne Auto wäre für die Kühns noch schwerer vorstellbar. Mit dem Pkw fährt Andreas Kühn in 20 Minuten bis zu seinem Arbeitsplatz in Wiehl. Für die Busfahrt müsste er einmal umsteigen und mindestens eine Stunde einplanen. Die Wiehltalbahn würde daran wohl wenig ändern. Für sein Ehrenamt als Jugendtrainer beim SSV bliebe keine Zeit mehr. Ausflüge nach Olpe oder Siegen zum Einkaufen oder ins Kino wären ohne Auto nahezu unmöglich.

Politik hat den ländlichen Raum nicht auf dem Schirm

Ein neues familientaugliches Elektroauto? Für die Kühns trotz aller Förderung nicht ohne weiteres erschwinglich. „Und bei einem gebrauchten E-Auto ist die Batterie meist völlig ausgelutscht.“ Der nachhaltigste Pkw, ist Andreas Kühn überzeugt, sei sowieso der Wagen, den man schon hat.

Er bedauert, dass er seinen alten Diesel für einen Benziner aufgeben musste, weil die Feinstaubregelungen ihn aus vielen Städten aussperrten. „Das ärgert mich maßlos.“ Der neue Wagen schluckt viel mehr Sprit und stößt mehr CO2 aus. Für Kühn das Paradebeispiel einer Politik, die den ländlichen Raum nicht auf dem Schirm hat. Der Wohnraum in den großen Städten ist knapp. Wenn nicht noch mehr Leute in die Metropolen abwandern sollen, dann müsse die Mobilität auf dem Land bezahlbar bleiben, findet Kühn. „Das ist ein Teufelskreis.“

Dörfliches Carsharing? Eigenes Auto ist das Fahrzeug der individuellen Mobilität

Alle vier Kühns fahren gerne Fahrrad, und zwar ohne elektrischen Rückenwind, obwohl Wildbergerhütte in einem Talkessel liegt und jede Fahrt erst einmal 100 Meter bergan geht. Ein Ersatz für das Auto sei der Drahtesel aber nicht.

Silvia Kühn hätte kein gutes Gefühl dabei, wenn ihre Jungs auf Schlaglochpisten oder am Rande von Schnellstraßen weitere Strecken radeln würden. Wenn das Radwegenetz besser wäre, würde er sich sicher noch öfter in den Sattel schwingen, glaubt Andreas Kühn: „Der Appetit kommt ja manchmal beim Essen.“

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Auf dörfliches Carsharing setzt er weniger Hoffnung. Dass eine Hand voll Gemeinschaftsautos wirtschaftlich zu betreiben ist, kann er sich nicht vorstellen. „Das eigene Auto ist und bleibt das Fahrzeug der individuellen Mobilität“, sagt Kühn. „Das ist auch eine Frage von persönlicher Freiheit.“

Noch einmal: Andreas Kühn will kein Bremser sein. Er hält es durchaus für sinnvoll, dass eine entwickelte Industrienation wie Deutschland beim Klimaschutz voranmarschiert. „Da spielt es erstmal keine Rolle, ob China mitzieht.“ Nur sieht der Familienvater nicht ein, dass die Verkehrswende vor allem eine Frage der individuellen Verantwortung sein soll. Die Politik müsse die Rahmenbedingungen setzen und die Verkehrswende mit Fördergeld voranbringen. Und zwar so, dass es nicht nur für Berlin-Mitte funktioniert. Sondern auch für Wildbergerhütte.

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