„Ich war immer eine Kämpferin“Marie Brück (Grüne) über ihren Weg vom Mann zur Frau

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Marie Brück, eine der beiden Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen im Kreistag, war Soldat, Banker – und ein Mann.

Marie Brück, eine der beiden Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen im Kreistag, war Soldat, Banker – und ein Mann.

Oberberg – Marie Brück, eine der beiden Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen im Kreistag, war Soldat, Banker – und ein Mann. Frank Klemmer sprach mit ihr über einen außergewöhnlichen Lebensweg und darüber, was sie prägt.

Unter jeder E-Mail, die Sie versenden, steht der Satz „Wer schreibt, der bleibt“. Was bedeutet Ihnen das Schreiben?

Marie Brück: (schmunzelt) Der Satz stammt von einem Mathematiklehrer am Wüllenweber-Gymnasium in Bergneustadt. Für mich ist er keine Plattitüde. Es gibt für mich kaum etwas Spannenderes, als ein leeres Blatt Papier, einen Stift und eine Idee. Schreiben ist für mich die Fingerübung des Reflektierens.

Reflektieren können Sie einiges. Vor allem Ihr bewegtes Leben. Fangen wir vorne an: Sie hießen nicht immer Marie . . .

Nein, geboren bin ich 1974 als Daniel Brück. Aufgewachsen bin ich in einer großen, vom Baptismus geprägten Familie in Gummersbach-Derschlag.

Wie war das in Ihrer Kindheit? Haben Sie von Anfang an gespürt, dass Sie nicht Daniel bleiben, sondern Marie werden wollen?

Es ist meiner Erfahrung nach ein landläufiges Missverständnis, dass Trans-Frauen Männer sind, die immer schon eine Frau sein wollten – das dann zwangsläufig auch werden. Das war nicht nur bei mir so nicht. Wer im Deutschland der 1970er und 1980er Jahre auf dem Land aufgewachsen ist, musste davon ausgehen, dass es keine Chance geben würde, jemals die Frau zu sein, die ich in mir spürte. Bis zu einem bestimmten Punkt, der in manchen Leben früher, in anderen später erreicht wird, ist das Ziel auch ein ganz anderes gewesen: Mein ganzes Streben und Hoffen lag darin, ein Mann zu sein.

Wie macht man das? Wie versucht man, ein Mann zu sein?

(lächelt) Ich glaube sogar, Daniel Brück hat das ganz gut gemacht – zumindest was die Etiketten angeht, die die Gesellschaft damit verbindet. Nach dem Abitur 1993 bin ich zur Bundeswehr gegangen. Ich habe meinen Grundwehrdienst absolviert, mich aktiv zur Fernspäh-Lehrkompanie 200 gemeldet, einer Spezialeinheit ohne konkreten Kampfauftrag, die im Süden Deutschlands stationiert ist. Ich wurde aufgenommen. Der Weg in die Offizierslaufbahn blieb mir zwar versperrt, dennoch bin ich als Unteroffiziersanwärter zurückgekehrt. Tatsächlich ging es mir damals nicht um Stolz, sondern um meine bis dahin lebenslange Bemühung, ein richtiger Kerl zu werden.

Warum sind Sie von diesem Weg abgekommen?

1999 gab es einen lebensgefährlichen Rückschlag. Während der Ausbildung auf einer Bundeswehr-Schießbahn irgendwo in Deutschland hat sich ein Schuss gelöst. Ich war Ausbilder und habe das heiße Mündungsfeuer gespürt, es brannte schon auf meiner Wange, als der Schuss meine Ohren betäubt hat. Instinktiv habe ich mich noch zwischen den Soldaten, aus dessen Waffe sich der Schuss gelöst hat, und eine Handvoll Unteroffiziere geschoben, die ihn wutentbrannt für das Missgeschick zur Rechenschaft ziehen wollten.

Was macht sowas mit einem?

Abends auf meiner Pritsche konnte ich nicht schlafen. Der Schuss: Das hätte mein letzter Tag sein können. Da nahm ich meinen Meldeblock aus der Uniformtasche und begann zu schreiben. Da geht es nicht darum, ob man Mann oder Frau sein will. Aber der Tag hat mich verändert, weil er meine ganze Wertebasis noch einmal auf den Kopf gestellt hat – auch was Ethik und Moral betrifft.

Wo standen Sie da auf Ihrem Weg zur Frau?

Das spielte für mich nach wie vor keine Rolle. Ich war immer noch überzeugt davon, ein Mann sein zu müssen. Ich habe eine Ausbildung bei der Deutschen Bank gemacht, wollte jetzt Börsenmakler werden. Ein Chef, der eine Karriere für mich offenstehen sah, schlug mir vor, in Bochum Wirtschaftswissenschaften zu studieren – mit den Schwerpunkten Banken und Wirtschaftsinformatik.

Und das haben Sie dann ja auch gemacht . . .

Ja, aber ich habe mich bald dafür entschieden, auf Lehramt für die Sekundarstufe II zu studieren. Da habe ich auch mein erstes Staatsexamen. (grinst) Ich bin also im Grunde Lehrerin. Aber es kam etwas dazwischen: Ich musste Geld verdienen, denn ich wurde Vater. 2002 wurde meine Tochter geboren. Mit meiner Frau habe ich damals noch in Bochum gelebt. Ich wechselte also zurück in meine alte Branche und wurde Finanzplaner beim Dienstleister Plansecur. 2006 wurde dann unser Sohn geboren, da sind wir zurück nach Nümbrecht gezogen.

Klingt so, als hätte der „Kämpfer“ Daniel den Kampf um die Rolle als Mann gewonnen.

Ganz im Gegenteil. Ich will da nicht ins Detail gehen. Nur soviel: Es ging nicht mehr so weiter. 2010 habe ich die Entscheidung getroffen. Zu dieser Zeit war ich eigentlich vom Leben verwöhnt: Eine tolle Frau, die ich von Herzen liebte, zwei wundervolle Kinder, ein guter Job, eine Familie, die sich immer liebevoll sorgte. Und dann eines Samstagnachmittags liege ich nach getaner Gartenarbeit in der Badewanne, höre draußen meine Frau hinter den freudig johlenden Kindern herjagen. Es wird herzhaft gelacht. Ein perfekter Moment. Ausgerechnet da war der Scheitelpunkt erreicht. Das Schwerste für mich war das Gespräch mit meiner Frau.

Zur Person

Genau der richtige Zeitpunkt sei es jetzt, über ihren Werdegang zu sprechen, findet Marie Brück. Sie meint die Initiative „#actout“, in der sich 185 Schauspielerinnen und Schauspieler in der Vorwoche im Magazin der Süddeutschen Zeitung als schwul, lesbisch, bi, queer, nicht-binär oder trans geoutet haben. Brück lebt in Nümbrecht und ist 2020 erstmals für die Grünen in den Kreistag gewählt worden.

Dort führt sie als Doppelspitze mit Andrea Saynisch die auf elf Mitglieder angewachsene Fraktion. Weil der Kreistag eine Doppelspitze offiziell nicht vorsieht, tritt nach außen zunächst Saynisch auf, nach zweieinhalb Jahren gibt es einen Wechsel. Zudem ist Brück Vorsitzende des Kulturausschusses. Bis zu ihrer Wahl in den Kreistag schrieb sie auch für unsere Zeitung – vor allem über Kultur. (kmm)

Und welche Rolle spielte Ihr Glaube?

Sagen wir es so: Ich hatte mich mit meiner Transidentität versöhnt, bevorzugt durch das Schreiben von Briefen an imaginäre Empfänger, durch Gedichte, ich zeichnete und betete. Viele Transkinder berichten von einer großen Sehnsucht nach Gott, weil bei all der Fassade, die wir um uns herum aufbauen, um die Erwartungen an uns zu erfüllen, letztlich nur er uns wirklich kennt. Von klein auf mit dem Thema Transidentität befasst, und meine „Werkzeuge“ parat, war ich mir völlig sicher, alles im Griff zu haben.

Sonst hätte ich nicht geheiratet. Als Christen glauben wir, dass Gott jeden Menschen mit bestimmten Gaben ausgestattet hat, die in dem Lebensumfeld, in das wir gestellt wurden, wichtig sind, und dass es einen Plan gibt. Man kann gerne auch sagen, die Natur macht keine Fehler. Alles hat in ihr seinen Platz. Aber wenn wir unsere Gaben nicht mehr in die Gesellschaft einbringen können, dann müssen wir tun, was notwendig ist, um wieder ein aktives, gestaltendes Mitglied der Gesellschaft werden zu können – sonst fehlt unser Beitrag und das Leben fühlt sich sinnlos an.

Hat Ihr Umfeld Ihre Entscheidung akzeptiert?

Letztlich ja, aber es war natürlich kein einfacher Weg. Mein Vater, Ulrich Brück, war semi-professioneller, klassischer Tenor und eine wichtige Figur unserer Gemeinde. Da hat meine Entscheidung natürlich Wellen geschlagen. Es gab viele Gespräche, einmal wurde ich sogar in die Zentrale der Freikirchen Deutschlands, des Bundes evangelischer freikirchlicher Gemeinden Deutschlands, nach Berlin eingeladen. Aber am Ende hat man meine Entscheidung akzeptiert und für mich gebetet.

Wo sehen Sie sich heute? Ist die Umwandlung abgeschlossen?

(lächelt) Gibt es das überhaupt? Dass so eine Umwandlung vollständig abgeschlossen wird? Mir geht es heute besser denn je. Aber ohne den Blick auf meine Kinder, die tapfere Unterstützung meiner beiden Familien, Freunde und meine Arbeitgeber, die VSB gGmbh, bei der ich arbeite, und die Grünen, wäre mein Wandel nicht möglich gewesen.

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Was macht so ein Lebensweg mit politischen Ansichten?

Ich bin damit sicher keine typische Grüne. Nicht so sehr wegen der Umwandlung vom Mann zur Frau. Aber meine Erfahrungen in einer Eliteeinheit der Bundeswehr und das Wirtschaftsstudium: das ist nicht gerade typisch. Und das prägt mich auch politisch. Bei dem unausweichlichen, klimatisch bedingten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel darf niemand über Bord gehen, weder Menschen noch Firmen.

Ich will neben meinem Fachwissen die Erfahrungen mit meinem eigenen Wandel in Sachen Transparenz, Zusammenhalt und mutige Initiative einbringen. Und vielleicht gelingt es mir an dieser Stelle auch etwas zurückzugeben. Meine Motivation speist sich aus dem heutigen Wissen, dass solch ein Wandel gelingen kann und aus meiner Dankbarkeit gegenüber dieser Gesellschaft und den vielen guten und tapferen Menschen, die mich direkt oder indirekt begleitet haben.

Ist Ihr Weg wenigstens typisch für Menschen mit einer Transidentität?

(lacht) Nein, auch das nicht, auf gar keinen Fall. Im Gegenteil: Die meisten ziehen sich ganz bewusst zurück. Und diejenigen, die ich hier in der Region kenne, fragen mich deshalb auch: ,Warum tust Du das? Warum gehst Du so in die Öffentlichkeit? Sowas machen wir doch nicht.’ Aber ich war eben immer schon ein bisschen anders. Ich war immer schon eine Kämpferin.

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