BackstubeDerschlager Traditionshaus Müller hat nach 100 Jahren geschlossen

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Jochen und Andrea Müller in der Backstube ihres Derschlager Traditionshauses. Großvater Otto Müller hatte sich hier vor 100 Jahren als Bäcker niedergelassen. Dass ein Berufskollege Bäckerei und Café jetzt übernimmt, macht den Müllers den Abschied leichter.

Jochen und Andrea Müller in der Backstube ihres Derschlager Traditionshauses. Großvater Otto Müller hatte sich hier vor 100 Jahren als Bäcker niedergelassen. Dass ein Berufskollege Bäckerei und Café jetzt übernimmt, macht den Müllers den Abschied leichter.

Derschlag – Wann er heute Morgen wach geworden sei? Jochen Müller muss einen kurzen Moment überlegen, dann lächelt er: „Halb sechs war’s.“ So lange hat er die letzten 45 Jahre nicht oft geschlafen. Ansonsten ist er um 2 Uhr früh aufgestanden, vor dem Wochenende schon um Mitternacht.

Bis Ende vergangener Woche war Jochen Müller Bäcker. Am Samstag haben er und seine Frau Andrea ihre Bäckerei samt Café in Derschlag geschlossen. 45 Jahre sind genug, sagt der 61-Jährige, „man merkt, dass man müde wird.“

1918 ließ sich Jochen Müllers Großvater Otto an der Kölner Straße in Derschlag nieder und richtete seine Backstube ein. Das Geld dafür verdiente er mit Holzarbeiten im Wald. Verkauft wurde nicht in einem Geschäft, die Ware wurde mit dem Pferdefuhrwerk herumgefahren und angeboten.

Otto Müller war gelernter Bäcker, auch alle drei Söhne lernten das Handwerk. Zwei von ihnen kamen im 2. Weltkrieg um, übrig blieb Friedhelm, der die Bäckerei und das inzwischen eingerichtete Geschäft 1952 übernahm. Kurioserweise eröffnete nur ein paar Meter weiter an der Kölner Straße eine weitere Bäckerei Müller, weitläufige Verwandtschaft, wie Jochen Müller sich erinnert.

Dass Jochen Müller auch Bäcker werden würde, stand für ihn nie wirklich in Frage, „das Geschäft war ja da“. Verlangt haben die Eltern das nicht von ihm. Auch seinen eigenen Kindern hat er die Berufswahl freigestellt. Sie haben sich anders entschieden. Für ihn selbst, sagt der 61-Jährige rückblickend, sei es so etwas „wie ein gewiesener Weg gewesen, und ich habe es gerne und mit Herzblut gemacht.“

Und anders als die allermeisten der Kollegen haben er und seine Frau Andrea es gemacht. Es gab Angebote, andere Bäckereien als Filialen zu übernehmen, die Müllers lehnten ab. „Auf Messen wurden wir schief angeguckt. „Was, nur eine Filiale? Mal sehen, wie lange wir sie noch beliefern.“ Im Bäckereigewerbe sind Öffnungszeiten längst normal. Bei Müllers nicht. „Sonntags gehört der Bäcker der Familie“, flachst Müller. Der gut gemeinte Rat von Fachberatern, mit Sonntagsöffnung könnten die Zahlen deutlich besser sein, schlugen die Müllers in den Wind: „Danke, wir kommen zurecht!“

Kamen sie auch. Erst recht, nachdem sie 1996 ein weiteres Wagnis eingingen, die Räume des benachbarten Pelzgeschäfts übernahmen, um ein Café einzurichten. Zwei andere in Derschlag hatten schon aufgegeben. Es dauerte, bis der Erfolg sich einstellte, aber er kam.

Niemand geht ohne ein persönliches Wort

Manche Kunden von heute erinnern sich noch an das Spezialangebot des Schülerfrühstücks, das bei den Jugendlichen der Renner war. Jochen Müller lacht: „Die schwänzten die Schule und saßen bei uns im Café. Kam ein Lehrer auf einen Kaffee vorbei, versteckten sie sich in der Küche. Heute kommen sie mit ihren Kindern.“ Müllers Café setzte sich durch. Ohne Reservierung brauchte man samstags zur Frühstückszeit gar nicht erst zu erscheinen.

Das klingt alles leichter als es war. Die Müllers hatten schwere Jahre. Jochen Müller war länger krank. Er trat kaum kürzer, arbeitete trotzdem, aber „in dieser Zeit haben wir gelernt, uns auf unsere Mitarbeiter zu verlassen“, sagt Andrea Müller dankbar. Bäcker ist ein Beruf, der die Familie belastet. Erst recht mit Geschäft und florierendem Café. Andrea Müller gibt zu, dass sie anfangs gar nicht dort arbeiten wollte, später dann nur für ein paar Jahre. Daraus sind 31 geworden.

Niemand geht ohne ein persönliches Wort. Manche Kunden vertrauen ihr sehr persönliche Dinge an. „Andrea spricht mit einem Kunden mehr als ich mit allen am ganzen Tag“, sagt ihr Mann mit Stolz. Was ein Bäcker heute braucht, um Erfolg zu haben? Innovationsgeist, sagt Müller, um neue Brotsorten zu „erfinden“. Und gute Zutaten. „Austauschstoffe haben wir nie benutzt, immer nur beste Zutaten.“ Und davon reichlich: „Ein Möhrenbrot muss schließlich nach Möhren schmecken.“

Früh haben die Müllers Bio-Brot gebacken und Naturkostläden beliefert. Als eine 10 000 Euro teure Zertifizierung dafür nötig war, wurde der Lieferverkehr eingestellt, die Brote im Laden als „Müllers Vollwertbrot“ verkauft.

Während des Gesprächs auf dem großen Balkon der Müllerschen Wohnung über dem Geschäft sind unten im Laden die Handwerker zugange. Der Bergneustädter Kollege Ralf Gießelmann hat ihn übernommen, auch ein Handwerker, wie Jochen Müller erklärt. Einer mit sechs Filialen, aber immer noch ein Handwerker, einer der „jungen Wilden“, die frischen Wind ins Gewerbe bringen. Andrea Müller wird stundenweise noch hinter der Ladentheke stehen, wie lange, wird man sehen. Denn die Müllers haben Pläne für ihre neu gewonnene Freiheit. Das gerade geschlossene Geschäft wird womöglich nicht ihr letztes sein. Was sie vorhaben, verraten sie nicht, „aber wir können schlecht rumsitzen. Wenn wir mal entspannen, denken wir über neue Ideen nach“.

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