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Jürgen Habermas im InterviewEin Gespräch über Heimat, Europa und die Zukunft

Lesezeit 6 Minuten
Jürgen Habermas gehört zu den aktuell bekanntesten Philosophen. Zu seinem 90. Geburtstag haben wir uns mit ihm unterhalten.

Jürgen Habermas gehört zu den aktuell bekanntesten Philosophen. Zu seinem 90. Geburtstag haben wir uns mit ihm unterhalten.

  • Der aus Gummersbacher stammende Prof. Dr. Jürgen Habermas wird 90. Zum Geburtstag haben wir uns mit ihm unterhalten.
  • Im Interview spricht der Philosoph über seine Heimat Gummersbach, die Idee vom großen Europa in der heutigen Zeit – und über die Zukunft.

Wie werden Sie Ihren 90. Geburtstag verbringen?

Im Kreise von Kindern und Enkeln und an einem schönen Ort, wo wir bereits Taufen, Konfirmationen und runde Geburtstage gefeiert haben.

Was bedeuten Ihnen solche Feste?

An meinem 40. Geburtstag hatte ich morgens den Eindruck, dass mein Bart nicht mehr wachsen würde – in der Zwischenzeit bin ich gelassener geworden.

Womit kann man Ihnen eine Freude machen, wenn man Sie heute beschenken möchte?

Am meisten habe ich mich gefreut, als mir meine Kinder vor Jahrzehnten bei einem runden Geburtstag einen Maulwurf aus Stoff schenkten – sie hatten mich bei meinem vergeblichen Kampf gegen die Maulwürfe im Garten beobachtet. Wie schon Marx wusste, ähnelt das Denken der Philosophen am ehesten der unterirdischen Wühlarbeit dieser Tiere. Sie sind blind, erkennen aber Widerstände und geben trotzdem nicht auf.

In Ihrer Biografie ist zu lesen, dass Sie in Düsseldorf geboren wurden. Tatsächlich aufgewachsen sind Sie aber in Gummersbach. Wie kommt es, dass Ihre Gummersbacher Jugend da vielfach fehlt?

Ich wüsste nicht, warum ich meine Jugend in Gummersbach verschweigen sollte. Stefan Müller-Doohm hat in seiner informativen und gründlichen Biographie diesem Thema die Seiten 25 bis 40 gewidmet.

Welche Erinnerungen haben Sie an das Gummersbach Ihrer Kindheit und Jugend?

Da kommt vieles zusammen. Das Elternhaus in der Körnerstraße natürlich, das die Nachfolger schön in Ordnung gebracht haben; der älteste Freund Jupp Dörr, den ich vor ein paar Jahren in Bonn wiedergesehen habe; das erste Fahrrädchen mit fünf Jahren; die Diesterwegschule, an der mein Großvater der erste Rektor gewesen war, Schützenfeste – und so weiter.

Was wollen Sie hören? Über den traurigen Marsch durch die Kaiserstraße, als wir im Herbst 1944 als das letzte Aufgebot an den Westwall zogen? Über Herrn Klingholz, den schüchtern-ironischen, aber anregendsten Lehrer, den ich auf dem Gymnasium gehabt habe? In Erinnerung sind mir die Geräusche des Sommerregens, der im Garten auf das Terrassendach prasselte, wenn im Juni der Geruch des frischen Grases von unserer Wiese aufstieg.

Der VfL Gummersbach ist nach 53 Jahren aus der Ersten Liga abgestiegen. Haben Sie die Spiele des langjährigen Aushängeschildes in den vergangenen Jahren verfolgt?

Nein, meine Erinnerungen gehen eher an den Mittelrheinmeister in den späten 40er und frühen 50er Jahren zurück, als Bocklemünd der Gegner war, und an die Wettkämpfe mit Kiel um den Titel des Deutschen Meisters. Kam nicht auch der Bundestrainer noch vor wenigen Jahren aus Gummersbach?

In Ihrem Studium haben Sie sich mit Philosophie, Geschichte, Psychologie, deutscher Literatur und Ökonomie befasst. Was war damals eigentlich Ihr Berufswunsch?

In meinem Abiturzeugnis habe ich „Journalist“ als Berufswunsch angegeben. Ich hatte schon während der letzten Jahre auf dem Gymnasium Film- und Theaterkritiken geschrieben; das habe ich als Student etwas professioneller bei Otto Vormstein auf der Lokalredaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“ fortgesetzt. Für Philosophie, Psychologie und Genetik habe ich mich schon früh interessiert; aber es wäre Größenwahnsinn gewesen, mit dem Ziel zu studieren, später einmal Professor zu werden.

Heute sind Sie einer der weltweit bekanntesten Philosophen und Soziologen. Was bedeutet Ihnen das?

Na ja, ich habe eben mein ganzes berufliches Leben daran gehangen . . .

Zur Person

Prof. Dr. Jürgen Habermas ist der meistbeachtete deutsche Philosoph der Gegenwart. Der Soziologe wurde am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren. Seine Mutter stammte von dort. Kindheit und Jugend verbrachte er in Gummersbach.

Sein Elternhaus steht in der Körnerstraße. Sein Vater Ernst war Geschäftsführer der Geschäftsstelle der Industrie- und Handelskammer zu Köln. Später leitete auch sein Bruder Hans-Joachim die Gummersbacher Zweigstelle für 27 Jahre. Jürgen Habermas machte Abitur am Jungengymnasium (heute Lindengymnasium). Seine Lehrer bescheinigten ihm, ein „ausgeprägter philosophischer Kopf mit eigenständigem Denken“ zu sein. Mit einem Augenzwinkern ergänzten sie: „Im Stil muss er noch etwas lesbarer werden.“ 1955 heiratete Habermas Ute Wesselhoeft, mit der er die drei Kinder Tilmann, Rebekka und Judith hat. (ar)

Sie haben in Ihrem Leben viele Persönlichkeiten kennengelernt. Darunter auch den späteren Papst Benedikt XVI., mit dem Sie im Jahr 2004 ein viel beachtetes und veröffentlichtes Gespräch über Vernunft und Religion geführt haben. Welchen Stellenwert haben Religion, Kirche und Glauben in Ihrem Leben?

Ich bin nicht religiös, aber wenn ich die Diskussionen des hohen Mittelalters verfolge oder Luther lese, denke ich manchmal, ich wäre auch ein guter Theologe geworden.

Seit vielen Jahren leben Sie im bayerischen Starnberg. Wie hat es Sie nach Süddeutschland verschlagen?

Adorno war 1969 plötzlich gestorben, Frankfurt schien mir verwaist. Da kam mir das Angebot von Friedrich von Weizsäcker gerade recht, mit ihm zusammen ein Max-Planck-Institut zur Erforschung wichtiger gesellschaftlicher Probleme zu leiten.

In der Vergangenheit haben Sie auch immer wieder Gummersbach besucht. Was verbindet Sie heute mit der Stadt Ihres Vaters, der hier Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer war?

Bis mein Bruder in den 90er Jahren in die Nähe von Köln umzog, haben hier drei Generationen der Familie gelebt. Ich bin hier aufgewachsen, meine Eltern besuche ich auf dem Friedhof. Und über die gar nicht so uninteressanten Forschungen zur Stadtgeschichte hält mich Jürgen Woelke auf dem Laufenden. Was braucht es mehr, um eine Verbindung zu spüren?

Für Ihr Wirken sind Ihnen viele Preise verliehen worden. Darunter auch der Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2001, der Kyoto-Preis 2004, der Erasmus-Preis 2013 und zuletzt der Große Deutsch-Französische Medienpreis. In Starnberg sind Sie seit 2009 Ehrenbürger. In Ihrer Heimatstadt Gummersbach sind Sie das bisher nicht – auch wenn einige wie zuletzt die Grünen sich das wünschen würden. Würden Sie diese Auszeichnung annehmen?

Schon seit vielen Jahren nehme ich solche öffentlichen Ehrungen, sowohl bürgerliche wie akademische Ehrungen, nicht mehr an. Damit muss eines Tages Schluss sein, wenn man sich nicht einfach Orden an die Brust heften lassen und damit die Ehrungen selbst beschädigen will.

Die Europawahl ist gerade vorbei. Sie gelten als Anhänger eines großen Europa. Wenn Sie sich an Ihrem Geburtstag wünschen könnten, wie Europa in zehn oder 20 Jahren ausschaut, was würden Sie sagen?

Ich glaube, dass die wachsende wirtschaftliche und soziale Ungleichheit innerhalb der Mitgliedsländer der Währungsgemeinschaft und vor allem zwischen ihnen ein Sprengsatz ist, der nur durch eine politische Euro-Union und eine engere Kooperation auch auf den Gebieten der Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik entschärft werden kann. Für die Hauptursache halte ich den rücksichtslosen Wirtschaftsegoismus, den die Bundesrepublik mit unschuldigem Augenaufschlag seit 2010 betreibt.

Wenn man dem dramatischen Verfall der Kooperationsbereitschaft und der politischen Kultur in Europa weiter zuschaut, kann der Moment der Wahrheit erst eintreten, wenn die Rechtspopulisten die Mehrheit in Parlament und Rat übernehmen und beim Versuch, die EU abzuwickeln, feststellen müssen, dass sie es gar nicht können – weil sie sehen, dass der Schaden zu groß wäre.

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