Jürgen HabermasUnheilsjahre in Gummersbach

Lesezeit 3 Minuten

Gummersbach – Geboren wurde Jürgen Habermas heute vor 85 Jahren in Düsseldorf, aber aufgewachsen ist er in Gummersbach. Eine neue Biographie würdigt die besondere Prägung, die der heute weltberühmte Philosoph in diesen Jahren als Mensch und Denker erfahren hat.

Dem ersten Kapitel des Buchs (Suhrkamp-Verlag, 784 Seiten, 29,95 Euro), in dem es um die Gummersbacher Kindheit und Jugend geht, hat der Autor und Oldenburger Soziologe Stefan Müller-Doohm den Titel „Unheilsjahre als Normalität“ gegeben. Bezeichnet wird damit die geistige Atmosphäre der NS-Zeit und wie diese auf den Feingeist und durch eine angeborene Gaumenspalte an den Rand gedrängten Jugendlichen gewirkt haben muss.

„Die ärztlichen Eingriffe, die er als Fünfjähriger über sich ergehen lassen musste, und der bleibende Sprachdefekt haben Habermas zufolge seine Denkwege nicht unwesentlich beeinflusst“, schreibt Biograf Müller-Doohm. „Das betrifft einerseits die Einsicht, dass Menschen existenziell aufeinander angewiesen sind; andererseits erfährt er am eigenen Leib, welche Bedeutung ,das Medium der sprachlichen Kommunikation als Schicht einer Gemeinsamkeit hat, ohne die wir auch als Einzelne nicht existieren können’.“ Müller-Doohm belegt, dass Habermas selbst zentrale Themen seiner Philosophie wie den Umgang mit Anderen, seine moralische Empfindlichkeit und sein politisches Denken auf diese Jugenderfahrungen zurückführt.

Und doch war diese Randexistenz eine „Normalität“ für Habermas. Keineswegs verbindet er mit seiner oberbergischen Jugend ausschließlich negative Erfahrungen, wie er auch unserer Zeitung gegenüber schon mehrfach versichert hat. Einladungen bei seinem Bruder Hans-Joachim, dem früheren Geschäftsführer der hiesigen IHK, der heute in Bensberg lebt, nutzt der Philosoph gelegentlich zu Besuchen in seiner Heimatstadt.

Habermas-Biograf Müller-Doohm widmet sich auch der Frage, wie groß die geistige Nähe des jungen Denkers zum Nationalsozialismus war. 2006 war zuletzt der Verdacht kolportiert worden, Habermas wäre ein strammer Hitlerjugendführer gewesen. Im Zuge einer Zeitungsdebatte setzten sich Jugendfreunde öffentlich für ihn ein, so der ebenfalls berühmte Historiker Hans-Ulrich Wehler und der inzwischen verstorbene Arzt Henner Luyken. Sie bezeugten, dass Habermas kein HJ-Führer, sondern Sanitäter war, und dass ihm die biologistische Weltsicht der Nazis schon wegen seines eigenen Defekts eher fremd blieb. Biograf Stefan Müller-Doohm verschweigt aber auch nicht, dass Habermas’ Vater Ernst bereits 1933 – wohl aus opportunistischen Gründen – der NSDAP beitrat.

Der 15-jährige Jürgen soll im Herbst 1944 in den Krieg ziehen. Doch es bleibt bei einem Einsatz am Westwall im Sanitätsdienst. Noch im Februar 1945 entgeht er einem Gestellungsbefehl der Wehrmacht nur durch Zufall.

Wie viele Männer und Frauen seiner Generation wird ihn die Frage nach der Verantwortung für die NS-Verbrechen und nach der Verpflichtung, die daraus erwächst, ein Leben lang beschäftigen. So auch in der Rede, die Habermas 1982 anlässlich des 125. Gummersbacher Stadtjubiläums gehalten hat: „Man kennt sich untereinander nur zu gut – aber die, die nicht ganz dazu gehören, auch wiederum nicht gut genug“, sagte Habermas über seine Heimatstadt. „Vielleicht bedürfen die geschützteren und die gewachseneren Umgebungen, deren Substanz uns heute mehr denn je am Herzen liegt, in besonderem Maße der politischen Gesinnung von Stadtbürgern – das Bewusstsein, dass alle dazugehören.“

Rundschau abonnieren