Glauben nie verlorenWaldbröler Pfarrer wurde als Kind von Geistlichen missbraucht

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Michael Schenk an der Kirche seiner früheren Heimatpfarre St. Michael in Waldbröl.

Michael Schenk an der Kirche seiner früheren Heimatpfarre St. Michael in Waldbröl.

Waldbröl – Michael Schenk entschuldigt sich. Er sei schlecht drauf, habe wenig geschlafen. „Und wenn, dann mit Alpträumen.“ Der 52-Jährige ist in seiner Heimatstadt Waldbröl, unterwegs trifft er auf Menschen, die er schon lange kennt. „Michi, am Sonntag habe ich drei Kerzen für Dich angezündet“, sagt einer vor den Pforten der Pfarrkirche St. Michael. Er spricht leise, zögert dabei. Auch Schenk ringt mit der Fassung, atmet schwer.

„Als Kind haben sie mir mit der Hölle gedroht, als Erwachsener habe ich sie erlebt“, sagt er heute. Viele, viele Jahre hat er gebraucht, um solche Worte zu finden, um sie aussprechen zu können. „Endlich kann ich mein Leben wieder zusammensetzen.“

Im Alter von drei bis sechs Jahren mehrfach sexuell missbraucht worden

Als Junge ist Michael Schenk im Alter von drei bis sechs Jahren von Geistlichen mehrfach sexuell missbraucht worden, auf schwerste Weise – hier in Waldbröl, in der Dienstwohnung des Pfarrers von St. Michael über dem Kindergarten und wohl auch in den Räumen der damals schon nicht mehr genutzten Volksschule an der Vennstraße. Auch ein Kloster gab es da, die Gebäude stehen nicht mehr. Ganz in der Nähe hatten die Eltern ein Feinkostgeschäft.

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Michael Schenk ist im Schatten des Kirchturms aufgewachsen, zur Schule gegangen, hat dort gespielt. Erhalten sind allein die Kirche und das Pfarrhaus nebenan. „Es kribbelt stark im Bauch, gut geht es mir nicht“, erklärt Schenk auf dem Weg dorthin.

In Waldbröl bekannt wie ein bunter Hund

Später hat er selbst als Pfarrer im Dienst der römisch-katholischen Kirche gestanden, 1997 wurde er von Kardinal Joachim Meisner zum Priester geweiht. In Waldbröl ist Schenk bekannt wie ein bunter Hund – als Maler, Zeichner und Bildhauer etwa, aber auch als Pralinenverkäufer im Geschäft der Eltern und später als Buchautor. In der Session 1993/1994 ist der Diplom-Theologe und leidenschaftliche Karnevalist sogar Regent des Narrenvolks in der Marktstadt.

Zwischen damals und heute liegt eine Zeit voll unfassbarem Leid und des Leidens: Schenk bricht mehrfach zusammen, psychisch und körperlich. Doch erst im Oktober vergangenen Jahres fallen die von ihm so ersehnten Worte: „Wir glauben Ihnen“, lässt die Interventionsstelle des Kölner Erzbistums den Geistlichen wissen. Jetzt bittet sie auch öffentlich um Unterstützung bei der „Klärung und Aufarbeitung von (Verdachts-) Fällen sexuellen Missbrauchs“: So steht es geschrieben in jenem Aufruf – einem Proclamandum, das gerade bei Gottesdiensten von den Kanzeln in den betroffenen Pfarrgemeinden verlesen worden ist, so auch in Waldbröl.

Dort wurden die vollen Namen der Beschuldigten genannt, sie sind 1999 und 2010 gestorben. „Danach haben uns einige Rückmeldungen erreicht“, erklärt Sprecher Thomas Klimmek auf Nachfrage dieser Zeitung. „Zum jetzigen Zeitpunkt hat die bisherige Auswertung jedoch keine Hinweise auf weitere Betroffene, Vorwürfe oder Zeugen ergeben.“

Flashbacks als Erfolg intensiver Therapie

Schenks Vorwürfe richten sich allerdings gegen drei Geistliche, jedoch nur zwei der mutmaßlichen Täter könne er heute mit Hilfe sogenannter Flashbacks (Blitzerinnerungen) benennen und sich an diese konkret erinnern – ein Erfolg intensiver Therapie. Schenk: „Den dritten Mann sehe ich in solchen Flashbacks dagegen nur als Silhouette, als sei eine Augenbinde verrutscht.“ Mühsam sei es ihm in unzähligen Sitzungen gelungen, das heillose Durcheinander in seinen Gedanken zu ordnen.

„Bildfetzen wurden zu ganzen Bildern, stehende zu bewegten, stumme Bilder erhielten Geräusche und Stimmen“, beschreibt Schenk, was er in den Flashbacks erlebt hat. „Zuletzt kamen Gefühle hinzu, begleitet von Kaskaden körperlicher Schmerzen.“

Neigungen des Beschuldigten sollen bekannt gewesen sein

Nach Angaben des Erzbistums war der eine der nun Beschuldigten von Februar 1965 bis Februar 1971 als Kaplan, der andere von Dezember 1970 bis 1. Februar 1988 zunächst ebenfalls als Kaplan und danach als Pfarrer an St. Michael in Waldbröl tätig. Dieser Mann stammt aus Morsbach, hatte dort eine eigene Metzgerei und schlug erst spät den Weg ins Kirchliche ein.

Seine Neigungen sollen in Morsbach bekanntgewesen sein, gegen seine Weihe gab es sogar Proteste. Das zeigen Briefe und E-Mails an Michael Schenk, die auch der Redaktion vorliegen. Der andere Pastor wirkte später Jahrzehnte lang bis zu seinem Tod in Bonn, im Stadtteil Holzlar trägt eine Straße seinen Namen.

Täglicher Zuspruch

Seitdem Michael Schenk über das spricht, was ihm als Kind widerfahren ist, erreicht ihn nahezu täglich Zuspruch: Gläubige bringen ihr Entsetzen zum Ausdruck und wünschen ihm Kraft für das, was vor ihm liegt. Unter den Briefen ist auch der eines Geistlichen aus Oberberg: Dieser bittet um Entschuldigung, weil auch er ihn, so sagt Schenk, vor 14 Jahren aufgefordert habe zu schweigen.

Für die Zeitungsfotos in Waldbröl streift Michael Schenk den Mundschutz über, trotz des großen Abstands zum Fotografen. Der Stoff gebe ihm Sicherheit, sagt er. Doch er will die Maske auch als Symbol verstanden wissen: „Die Kirche hat mich mundtot gemacht. 15 Jahre lang stand ich als Lügner da.“ Bis dahin habe die Kirche versucht, alles zu vertuschen.

Sein Leiden öffentlich zu machen sei nie das Ziel gewesen

Sein Leiden öffentlich zu machen, das sei eigentlich nie sein Ziel gewesen, betont Schenk, der heute auf einem früheren Bauernhof in Ruppichteroth-Stranzenbach lebt und dort einen Therapie- und Exerzitienhof leitet, nachdem er 2008 zur alt-katholischen Kirche konvertiert ist. „Ich wollte gesund werden, Heilung erfahren, in aller Stille Versöhnung und Frieden mit der Kirche finden.“ Denn der 2017 verstorbene Kardinal Meisner habe ihm keine Hilfe angeboten, als er diesem von seinen Erinnerungen an den mutmaßlichen Missbrauch berichtet und um Nachforschungen gebeten habe.

Im Gegenteil: 2002 habe ihm Meisner nahegelegt, den Kirchendienst im Sommer jenes Jahres zu verlassen. Und am 15. Oktober 2002 hält Schenk plötzlich seine Suspendierungsurkunden in den Händen: Rauswurf wegen Ungehorsams, die Erlaubnis zu unterrichten wird ihm ebenfalls entzogen.

Rückkehr nach Köln ausgeschlossen

Schenk hatte sich geweigert, aus einem Krankenjahr in Hamburg nach Köln zurückzukehren. Das Jahr hatte ihm das Erzbistum gewährt. Zu groß sei seine Angst gewesen, die Gedanken an einen Selbstmord könnten erneut aufkeimen, schildert Schenk heute. „Von jetzt auf gleich aber hatte mir das Erzbistum die Existenzgrundlage entzogen, ich war mittellos, hatte nichts mehr. Freunde halfen.“

Der Wunsch, die Vergangenheit aufzuarbeiten, um endlich in die Seelsorge zurückkehren zu können, führt im Herbst 2004 zu einer kirchlichen Anzeige: Schenk verlangt erstmals offiziell die Untersuchung seines Falls. „Ich wollte selbst unter heiligem Eid dazu beitragen.“ Sein psychisches Leid habe wohl in seiner Zeit als Kaplan in Wipperfürth begonnen, als er sich einem Vorgesetzten gegenübersieht, der ihm unterschwellige Avancen gemacht, ihm Privilegien versprochen habe.

Bis zum Burn-out in Arbeit

Schenk stürzt sich bis zum Burn-out in Arbeit – und landet im Krankenhaus. Heute wisse er, dass die Mischung aus dem Verbrechen gegen ihn als Kind und der erneute Missbrauch von Macht durch jenen Vorgesetzten der Schlüssel zu seinem Leid als Erwachsener gewesen sei. „Ich saß in der Falle, war der Macht unterlegen, konnte mich nicht wehren.“

Unaufhaltsam bahnt sich das zuvor verdrängte, nie verarbeitete und immer verschwiegene Trauma aus der früheren Kindheit den Weg an die Oberfläche und bestimmt jede Sekunde des Lebens. Schenk rutscht immer tiefer in die Depression, sein Körper streikt, er durchlebt Panikattacken, das Herz rast, immer öfter landet er im Krankenhaus. „Hinzu kamen plötzliche Lähmungen. Eines Tages musste ich mein linkes Bein ins Auto heben“, blickt der Waldbröler zurück.

Auch weitere Missbrauchsfälle aus Oberberg sind Teil kirchlicher Untersuchung

Mit dem Fall des Geistlichen, der von Dezember 1970 bis 1. Februar 1988 an St. Michael in Waldbröl tätig war, gibt es nun einen dritten mit Verbindung in die Gemeinde Morsbach.

Ende Oktober 2018 hatte das Kölner Erzbistum die schonungslose Aufarbeitung und Aufklärung mutmaßlicher Missbrauchsfälle angekündigt und Strafanzeige erstattet bei den Staatsanwaltschaften in Bonn, Düsseldorf und Koblenz. Eine dieser Anzeigen richtete sich nach Informationen dieser Zeitung gegen einen heute 73 Jahre alten Priester, der von 1991 bis 1996 in der heutigen Pfarreiengemeinschaft Morsbach, Friesenhagen und Wildbergerhütte tätig war, unter anderem in der Pfarrei St. Josef in Lichtenberg.

Aufgrund reformierter Fristen aber nahm die Staatsanwaltschaft keine Ermittlungen auf: Die zur Anzeige gebrachten Vorwürfe stammten aus den 1990er Jahren und galten gemäß der neuen Fristen als verjährt.

Auch die in Koblenz zur Anzeige gebrachten Anschuldigungen gegen einen heute ebenfalls 73 Jahre alten Priester, der bereits 2010 per Strafbefehl verurteilt und erst im Februar des folgenden Jahres 2011 dann von der Kirche seiner Ämter enthoben worden war, wurden aufgrund der Verjährung nicht weiter verfolgt. Eine 34-jährige Frau aus dem Landkreis Altenkirchen hatte dem Mann im August 2018 vorgeworfen, während seiner Amtszeit dort 1993 und 1996 „sexuelle Handlungen“ an ihr als Kind ausgeübt zu haben.

Der Geistliche war unter anderem Vorsitzender des Katholischen Kirchengemeindeverbandes Morsbach, Friesenhagen und Wildbergerhütte. Diesen Fall wollte das Erzbistum damals auf Nachfrage 2018 allerdings nicht bestätigen. Mitte der 1970er Jahre war dieser Mann als Kaplan an St. Michael in Waldbröl – unter der Leitung des aus Morsbach stammenden Ortspfarrers.

Inzwischen hat das Erzbistum Köln eine neue unabhängige Untersuchung zu Fällen sexualisierter Gewalt angekündigt und in Auftrag gegeben. Bis 18. März 2021 sollen die Ergebnisse vorliegen. Ein zuvor erstelltes Gutachten hält das Erzbistum aufgrund angeblich „gravierender Mängel“ unter Verschluss. (höh)

„Ich war bereit, meinem Leben ein Ende zu setzen.“ 2009 endlich geht Michael Schenk in Hamburg, begleitet vom Weißen Ring und mit therapeutischer Unterstützung, zur Polizei. Und er beginnt wieder von vorn, arbeitet noch einmal alles auf.

Inzwischen hat ihm das Erzbistum 5000 Euro überwiesen – eine Anerkennungsleistung, wie Bistumssprecher Klimmek sagt. Zudem habe Schenk die Zusage erhalten, dass zukünftige Therapiekosten gemäß geltender Regelungen – approbierter Psychotherapeut und vorherige Einreichung eines Behandlungsplans durch den Therapeuten – übernommen werden. Klimmek: „Herr Schenk wurde von uns auch auf die bevorstehende Weiterentwicklung des kirchlichen Anerkennungsverfahrens und der in diesem Zusammenhang erneuten Prüfung seines Falles aufmerksam gemacht, sodass weitere Zahlungen selbstverständlich nicht ausgeschlossen sind.“

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Michael Schenk aber vermisst Anderes: Reue und Buße – eben jenes, das die Kirche von ihren Gläubigen fordere, etwa in der Beichte: „Am Anfang steht Reue, dann kommen das Eingeständnis der Schuld, die Bitte um Vergebung und am Ende eine ehrliche Wiedergutmachung wie sie die römisch-katholische Kirche lehrt.“ Die aber wolle sich an den eigenen Werten offenbar nicht messen lassen.

Als Geistlicher der alt-katholischen Kirche hat Schenk Erfüllung gefunden. Trotz des Leids habe er nie an seinem Glauben gezweifelt oder gar damit gebrochen. „Denn meinen Glauben habe ich von meinen Eltern, nicht von der Institution Kirche“, sagt er. „Der Glaube ruht ganz tief in mir. Ich glaube an Jesu Botschaft.“

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