Bundesweiter MissbrauchsfallEin Chat führte auf die Spur der Vergewaltiger

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Nach mehr als einem Dreivierteljahr nach der ersten Festnahme in der rheinisch-bergischen Kreisstadt ist erst ein Bruchteil der mutmaßlichen Beteiligten identifiziert.

Bergisch Gladbach – Am Anfang stand "lila06789 Homer Simpson". Dieser Chatname führte auf die Spur eines der größten je in Deutschland ermittelten kriminellen Geflechte sexueller Gewalt gegen Kinder. In Kassel war für einen Gerichtsprozess gegen einen Lokführer, der wegen des Besitzes von Kinderpornografie schließlich zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde, auch das Handy des Angeklagten untersucht worden. Auf ihm hatten die Kasseler Ermittler im Messengerdienst KIK die Nachricht eines gewissen "lila06789 Homer Simpson" gefunden, der dem Lokführer aus Hessen im Dezember 2017 ein pornografisches Bild eines etwa sechs- bis achtjährigen Mädchens geschickt hatte.

Die Kölner Ermittler finden heraus, wer "lila06789 Homer Simpson" ist. Die Spur führt in eine verkehrsberuhigte Wohnstraße von Bergisch Gladbach. Dort lebt der Mann, der sich das aus einer Zeichentrickserie entlehnte Pseudonym zugelegt hat, in einem Reihenhaus - mit Frau und zweijähriger Tochter. Was da noch niemand ahnt: Eine Hausdurchsuchung bei dem 42-Jährigen, den man zunächst allein des Besitzes von Kinderpornografie verdächtigt, wird das Tor zu einem bundesweiten Missbrauchskomplex öffnen, dessen Reichweite auch heute noch nicht komplett abzuschätzen ist.

Prozessbeginn am Montag

Am Montag sollte vor der 2. Großen Strafkammer des Kölner Landgerichts eigentlich der Prozess gegen den mittlerweile 43 Jahre alten Bergisch Gladbacher beginnen (wurde nach einem Feueralarm allerdings abgesagt), durch dessen Handy- und Chatkontakte die Ermittler Zugang zu einem weit verzweigten Geflecht von Pädophilen fanden, das weder ein ausmachbares lokales Zentrum noch einen wie auch immer gearteten "Haupttäter" hatte, das aber scheinbar unauslöschlich mit dem Namen von Bergisch Gladbach verbunden ist. Auch wenn selbst mehr als ein Dreivierteljahr nach der ersten Festnahme in der rheinisch-bergischen Kreisstadt erst ein Bruchteil der mutmaßlichen Beteiligten identifiziert ist. So wie "lila06789 Homer Simpson".

Es dauert nicht lange, bis die Ermittler das Passwort geknackt haben, das der gelernte Koch und Hotelfachmann für seine insgesamt drei Mobiltelefone benutzt: Es ist das Geburtsdatum seiner heute dreijährigen Tochter. Allein auf den Handys finden die Ermittler mehr als 500 Bild- und Videodateien, die ihren Erkenntnissen zufolge zeigen, wie der Vater seine Tochter sexuell missbraucht. Zum ersten Mal soll er ihr im Sommer 2017 sexuelle Gewalt angetan haben, da ist das Mädchen nicht mal ein halbes Jahr alt und liegt vor ihm auf dem Wickeltisch.

Nicht im verborgenen Darknet, sondern auf frei zugänglichen Internet-Plattformen und über Messengerdienste wie WhatsApp, Threema oder Telegram tauschte er sich aus, nannte sich „Zauberjogi“, „Bullseye“ oder gab einfach nur seinen Vornamen an. Allein bei der ersten Sichtung der Mobiltelefone des 42-Jährigen finden die Ermittler Hinweise auf mindestens 20 weitere Täter, mit denen der Bergisch Gladbacher Bilder getauscht und zudem zu gemeinsamen Missbrauchstaten verabredet haben soll. Hinzu kommen Chats mit teils mehr als 1000 Mitgliedern.

Wie selbstverständlich

Nicht im verborgenen Darknet, sondern auf frei zugänglichen Internet-Plattformen und über Messengerdienste wie Whatsapp, Threema oder Telegram tauschte er sich aus, nannte sich "Zauberjogi", "Bullseye" oder gab nur seinen Vornamen an. Allein bei der ersten Sichtung der Mobiltelefone des 42-Jährigen finden die Ermittler Hinweise auf mindestens 20 weitere Täter, mit denen der Gladbacher Bilder getauscht und sich zu Missbrauchstaten verabredet haben soll. Hinzu kommen Chats mit teils mehr als 1000 Mitgliedern. Darin soll der Bergisch Gladbacher wie selbstverständlich über Missbrauchstaten gesprochen haben, vor allem am Morgen begangen - am Wickeltisch, im Schlafzimmer oder auch im Planschbecken hinter dem Haus. Seine Frau, die im Prozess als Nebenklägerin auftritt, war zu diesen Zeiten bei der Arbeit. Die Ermittler sind überzeugt davon, dass sie von den Taten nichts gewusst hat. Ihr Mann übernahm offenbar häufig Nachtschichten als Pförtner. Viele Menschen in Bergisch Gladbach kannten ihn, beschreiben ihn als offen, freundlich, hilfsbereit, als "verantwortungsvollen Vater", der seine Tochter oft zur Kita brachte. "Habe meist vorm Kindergarten Zeit zum Schmusen", soll er sinngemäß in Chats geschrieben haben.

Es sind Abgründe, in die die Ermittler schauen. Wenn es stimmt, was sie herausgefunden haben, hat der Vater seine Tochter so erziehen wollen, dass sie sexuelle Handlungen an ihm zunehmend freiwillig vornehmen sollte. Den sexuellen Missbrauch sollte sie als "normal" wahrnehmen. Es sei "kindgerecht", was er mache, soll er in einem Chat geschrieben haben. "Die Selbstverständlichkeit, wie in diesen netzbezogenen Kommunikationsforen über Kinderpornografie und Missbrauch gesprochen wird, lässt erahnen, dass aufgrund des ständigen darüber Sprechens viele Beteiligte ihr Verhalten als normale sexuelle Präferenz empfinden", erklärte Markus Hartmann, Leiter der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime NRW, jüngst der Deutschen Presse-Agentur. "Und das ist meines Erachtens eine neue Dimension", so der Oberstaatsanwalt. Es gebe eine "gegenseitige Bestärkung, dass das ein akzeptables Verhalten ist".

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Mit einem zu zehn Jahren Haft verurteilten und in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesenen Chatpartner soll sich der Bergisch Gladbacher mehrfach zum Missbrauch der eigenen Kinder verabredet haben. Zu einem dritten Treffen Anfang November 2019, für das die beiden bereits Reizwäsche für die Kinder sowie ein Dildo-Set besorgt haben sollen, kommt es nicht mehr. Beide werden vorher festgenommen. Dem mittlerweile 43-jährigen Bergisch Gladbacher wirft die Staatsanwaltschaft 79 Taten vor, in 61 Fällen soll er seine Tochter sexuell missbraucht haben. Auch die Verabredung zu einem Verbrechen wirft ihm die Anklage vor. Der Angeklagte und sein Anwalt haben sich dazu auch auf Nachfragen dieser Zeitung nicht geäußert.

Mehr als drei Terabyte Daten stellten die Ermittler bei mehreren Durchsuchungen von Haus und Grundstück des Gladbachers sicher. Darauf gespeichert sind auch zahlreiche kinderpornografische Bild- und Videodateien sowie Chatprotokolle, die noch in weiteren Prozessen eine Rolle spielen werden. Die Ermittlungen in Bergisch Gladbach hätten den "Blick dafür geschärft, wie enorm weit sich die Kreise der Täter verzweigen können", sagt der ebenfalls aus dem Rheinisch-Bergischen Kreis stammende NRW-Innenminister Herbert Reul. Er hatte die Ermittlungskapazitäten der Polizei in NRW nach den massenhaften Kindesmissbrauchsfällen von Lügde deutlich erweitert - bevor die Hausdurchsuchung in Bergisch Gladbach die größte Ermittlung wegen sexueller Gewalt an Kindern in der Geschichte der Bundesrepublik auslöste.

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