Der Tag, der alles veränderteKürtenerin kämpft gegen Verjährung sexuellen Missbrauchs

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In Deutschland werden nach Angaben der Polizei 14 000 Kinder pro Jahr Opfer sexuellen Missbrauchs. Viele Kinder schweigen. Bei schwerem Missbrauch verjähren die Taten nach 30 Jahren. Das wollen Elisabeth Brodesser und der Verein Tour 41 ändern.

In Deutschland werden nach Angaben der Polizei 14 000 Kinder pro Jahr Opfer sexuellen Missbrauchs. Viele Kinder schweigen. Bei schwerem Missbrauch verjähren die Taten nach 30 Jahren. Das wollen Elisabeth Brodesser und der Verein Tour 41 ändern.

Kürten – „Ich habe lebenslänglich. Alle, die in ihrem Umfeld damit zu haben, haben lebenslänglich.“ Elisabeth Brodesser sagt diesen Satz gefasst. Sie macht eine lange Pause. „Ja, so ist es. Lebenslänglich.“

Daheim in Kürten schaut sie nachdenklich aus dem Wohnzimmerfenster. Es ist viel Schnee gefallen in diesen Tagen, die Wiesen sind eingehüllt ins weiße Kleid. Ob das Wetter ihrem Sohn Markus gefallen würde? Die Gedanken sind bei ihm. Jederzeit. „Markus ist abends mein letzter Gedanke und morgens mein erster.“ Sie macht eine lange Pause, die Erinnerungen an die Ereignisse werden übermächtig. Vor über zehn Jahren, am 11. August 2007, hat sich Markus das Leben genommen. Er wurde 29 Jahre alt.

Übergriffe durch Mitarbeiter der Stadt

Markus ist als Kind missbraucht worden. Als er neun Jahre alt war, begannen die Übergriffe durch den Mitarbeiter einer Jugendorganisation in einer Stadt. Über drei Jahre wurde Markus missbraucht, immer und immer wieder. Markus hat geschwiegen, sich nicht geöffnet, auch nicht seiner nächsten Umgebung. 20 Jahre lang ahnten seine Eltern und seine beiden Schwestern nichts. „Hat es Anzeichen gegeben?“ Darüber grübelt die Mutter. Markus sei ein stiller Junge gewesen. In der Schule sei er zu dieser Zeit schlechter geworden. „Wir sind umgezogen, er hat die Schule gewechselt. Das dachten wir . . .“ Aber es war etwas anderes.

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Tour 41

Markus Diegmann aus Wipperfürth ist Initiator des gemeinnützigen Vereins Tour 41. Mit seinem Wohnmobil ist Diegmann unterwegs in Deutschland, um eine Million Unterschriften zur Abschaffung der Verjährungsfrist bei sexuellem Kindesmissbrauch zu sammeln. Sie sollen geschlossen als Petition dem Deutschen Bundestag übergeben werden.

Weitere Anliegen des Vereins: Aufklärung und Information, Präventionskonzepte für Erwachsene, langfristig Aufbau von Akut-Hilfemaßnahmen für erwachsene Opfer von sexueller Gewalt und Missbrauch in der Kindheit, Schaffung von Beratungsstrukturen für Betroffene und Angehörige. Kontakt: Tour 41 e.V., Weidener Straße 36, 51515 Kürten.

stefanie@tour41.net

www.tour41.net

Als Markus immer stiller wurde, gingen die Eltern mit ihm zum Hausarzt. Der Arzt empfahl gesundes Essen, Vitamine, mehr Fleisch. „Irgendwann hatte ich den Eindruck, dass ein Klassenkamerad eifersüchtig auf Markus war.“ Darauf habe sie sich keinen Reim machen können. Heute weiß sie: „Markus hatte seinen Klassenkameraden in der Gunst des Täters abgelöst.“

Auch der Klassenkamerad sei missbraucht worden, in der selben Jugendgruppe, vom selben Täter. „Da gab es ein Netzwerk.“ Elisabeth Brodesser nennt eine mögliche Zahl der Betroffenen. Sie liegt sehr hoch.

Am ersten Geburtstag ihres Enkels erhielt die Mutter eine SMS-Mitteilung aufs Handy. Spät abends schaute sie nach. Die Nachricht war von Markus. Er hatte zur Feier nicht hingehen wollen, wo er doch eigentlich ein Familienmensch gewesen sei, erinnert sich die Mutter. Das sei schon ungewöhnlich gewesen. In der SMS offenbart sich der Sohn, berichtet vom jahrelangen Missbrauch.

Nichts war mehr, wie es war

Der Schock, aus heiterem Himmel lässt das bisherige Leben einstürzen. „Nichts war mehr, wie es war.“ Die Mutter eilt zu ihm, telefoniert nach seinen Schwestern. Sie weiß noch genau, wie es war an diesem Abend, der alles anders machte. Alle seien gekommen, um Markus Halt zu geben. Von da an sei ihr Sohn Männern konsequent aus dem Weg gegangen, habe deren Anwesenheit nicht mehr ertragen. Als seine Schwäger zu Besuch gekommen seien, habe Markus sich an der Küchentüre vorbei aus dem Raum geschoben.

Mit hohem Tempo gegen parkendes Auto gefahren

Sechs Wochen später rast Markus im Auto der Mutter in den Tod. Auf der B506 bei Bechen steuert er mit hohem Tempo auf ein an der Straße geparktes Auto. „Wir konnten uns am Unfallort noch von ihm verabschieden. Auch ein Seelsorger kam.“ Später sei sie schreiend durch den Garten gelaufen. „Die Nachbarn haben aus dem Fenster geschaut und sich gewundert.“ Tage vorher war ein erster Selbstmordversuch von Markus gescheitert.

Auf einem Parkplatz hatte er Motorabgase in den Innenraum geleitet, vorher alles abgeklebt. Spaziergänger wurden aufmerksam, riefen die Polizei. Den Selbstmordversuch habe Markus abgestritten, erinnert sich die Mutter. Aber sie habe Reste von Klebeband gefunden. Auf dem Beifahrersitz hätten Coladose und Hamburger-Verpackung gelegen, der Radiosender sei auf Eins live eingestellt gewesen. Cola mit Hamburger war Markus’ Lieblingsessen, Eins live sein Lieblingssender.

Dunkelziffer bei Missbrauch viel höher

Spricht Elisabeth Brodesser über ihren Sohn, geht es immer auch um Hilfen für Betroffene. Sie unterstützt die Initiative des Wipperfürthers Markus Diegmann, der den Verein Tour 41 gegründet hat. 41 – weil es 41 Missbrauchsanzeigen täglich in Deutschland gibt. „Die Dunkelziffer ist hoch, sehr hoch“, vermutet Elisabeth Brodesser. Die Opfer seien an der Seele erkrankt. „Das kann man ja nicht sehen, anders als wenn einem ein Arm oder ein Bein fehlt.“ Die Hilfeangebote müssten ausgebaut werden, das fordert sie mit Nachdruck. An jeder Schule müsse es einen Vertrauenslehrer geben, geschult im Umgang mit dem Thema.

In Krankenhäusern brauche es mehr Aufnahmeplätze. Markus Diegmann sammelt Geld für die Einrichtung von Akutplätzen für suizidgefährdete Missbrauchsopfer, das unterstützen Elisabeth Brodesser und die beiden Töchter. Eine Million Unterschriften will Diegmann zur Abschaffung der Verjährungsfrist bei sexuellem Kindesmissbrauch sammeln.

Als ihr Sohn sein Leben nicht mehr habe leben wollen, habe ihn nur ein Krankenhaus aufnehmen wollen. „Er kam in die Psychiatrische Abteilung. Das ist furchtbar gewesen.“ Nach drei Tagen sei Markus weggelaufen. „,Ja, ich kümmere ich mich um einen Behandlungsplatz’, hat er mir gesagt.“ Heute weiß die Mutter, dass Markus sie damit nur hinhalten wollte. „Er wollte einen zweiten Selbstmordversuch unternehmen.“ Ihre Versuche, rechtzeitig einen Therapieplatz für den Sohn zu bekommen, scheiterten. „25 bis 30 Einrichtungen habe ich angerufen. Als ich erklärt hatte, worum es geht, war kein Platz mehr frei.“

Der Name des Täters. Die Jugendorganisation in der großen Stadt. Elisabeth Brodesser spricht von Vertuschung, vom Nichts-wissen-Wollen. Es gebe größere Systeme des Missbrauchs. Schwerer Missbrauch verjährt nach 30 Jahren. „Aber was ist schwerer Missbrauch. Wie wird das gewichtet?“ In Deutschland gebe es Täterschutz, wo doch eigentlich Opferschutz sein müsse. Leise spricht sie von Zufallsbegegnungen beim Unterschriftensammeln. Oft höre sie: „Ja, in meiner Familie, in meiner Umgebung hat es das auch gegeben.“ Aber alle schwiegen. „Ich schweige nicht“, sagt sie.

Zum zehnten Jahrestag des Selbstmords haben die Angehörigen von Markus eine Erinnerungsanzeige in dieser Zeitung veröffentlicht: „Nach 20 Jahren hast du dein Schweigen gebrochen, doch deine Seele war zu schwer verletzt und du hast dich entschieden zu gehen. Während der Täter unbehelligt weiterlebt, haben wir dich für immer verloren.“

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