Die Zwangiger im BergischenOverather Bürger im Kampf gegen Diebe im „Kartoffelkrieg“

Lesezeit 4 Minuten
An der Marialindener Brücke versuchten Overather die Kartoffeldiebe zu stoppen.

An der Marialindener Brücke versuchten Overather die Kartoffeldiebe zu stoppen.

  • Die 1920er Jahre: Die Nachwehen des Ersten Weltkriegs sind noch immer zu spüren. Unter dem „Ruhrkampf“ und Inflation leiden Bewohner der Kölner Vorstädte.
  • Deshalb taten sich die Kölner zusammen und gingen im Bergischen „einkaufen“!
  • Mit Einkaufen hatten die blutigen Plündereien im Overrather Kartoffelkrieg allerdings wenig zu tun.

Rhein-Berg – Die Menschen in Overath, der „Perle an der Agger“, mögen die Kölner und freuen sich über Menschen aus der Domstadt. Über solche, die als Erholungssuchende ins Bergische kommen, genauso wie über solche, die in der sanften bergischen Hügellandschaft Wurzeln schlagen und es wie Helmut Amelung zum Chef der Bürgerstiftung, wie Ulla Gote zur Vorsitzenden des Geschichtsvereins oder wie Jörg Weigt sogar zum Bürgermeister bringen. In den 1920er Jahren im „Overather Kartoffelkrieg in Overath 1923“war das zeitweise anders.

Freitag, 26. Oktober 1923: In Overath spricht sich die Nachricht herum, dass die Bahn in Köln einen Sonderzug zum „Kartoffeleinkauf“ bereitstellen wird. Dabei kann von „Kaufen“ keine Rede sein: Die unter den politischen und sozialen Wirren nach dem Ersten Weltkrieg, unter den Folgen von „Ruhrkampf“ und Inflation leidenden Bewohner der Kölner Vorstädte haben sich bereits mehrfach zusammengerottet und sind mit dem Zug ins Bergische gefahren, um die Äcker der Bauern zu plündern.

Der einzige Ortsgendarm Josef Stammen war machtlos gegen die Invasion.

Der einzige Ortsgendarm Josef Stammen war machtlos gegen die Invasion.

„Die Landwirte waren dagegen machtlos, da die Kölner zumeist in der Überzahl waren“, berichtet Andreas Heider, Overather Heimatforscher und ehemaliger Bürgermeister (2004-2014) in der Zeitschrift „Achera“ über den „Kartoffelkrieg in Overath 1923“. Overath hat 1923 gerade einmal drei Polizisten – den staatlichen Gendarmen Josef Stammen und zwei Ortspolizisten – und die sind zu schwach, Angriffe abzuwehren. Heider: „Da sie auf keine nennenswerte Gegenwehr stießen, gingen die Kölner bald dazu über, in immer größerem Stil bereits geerntete Kartoffeln sowie Getreide, Obst und Kleinvieh zu stehlen.“ Die zuständige französische Besatzungsmacht hält sich bedeckt und versucht, die Overather für den rheinischen Separatismus zu erwärmen.

Blutige Straßenschlacht am heutigen Kulturbahnhof

In dieser Lage stellen sich am 26. Oktober morgens Overather Bauern und Bürger den zu Hunderten ankommenden Kölnern entgegen und versuchen, sie am Verlassen des Bahnhofs, des heutigen Kulturbahnhofes, zu hindern. Es kommt zu einer blutigen Straßenschlacht, in deren Verlauf ein Kölner Bürger erschossen, ein Overather Landwirt erschlagen und zahlreiche Beteiligte verletzt werden. Die Kölner ziehen unter wüsten Vergeltungsdrohungen in Richtung Wahlscheid ab.

Auf dem Hof des Dorfschmieds Johann Nümm töteten sich ein Kölner und der Gutseleve gegenseitig.

Auf dem Hof des Dorfschmieds Johann Nümm töteten sich ein Kölner und der Gutseleve gegenseitig.

Am nächsten Tag berichtet die Bensberger Volkszeitung: „Im Aggertale herrscht vollkommene Anarchie. Tausende von Menschen ziehen plündernd und raubend durch die Kartoffelfelder. Die Plünderer treten gruppenweise auf, nehmen sich die Kartoffeln dort, wo sie dieselben finden, und misshandeln die Landwirte, wenn nicht sofort ihr Wille getan wird. Die geringe Polizei ist machtlos gegenüber diesen Zuständen.“

Immer wieder neue Angriffe und Plünderungen

Die Zahl der Kartoffelhamsterer steigt trotz der Freitags-Krawalle am Samstag dramatisch an. Heider: „Schon am 27. Oktober kamen sie frühmorgens wieder zu Tausenden ins Aggertal, um sich gewaltsam mit Kartoffeln und Lebensmitteln einzudecken.“ Damit nicht genug: Das Dorf Overath ist belagert, der Bahnhof besetzt, der Bahnhofsvorsteher seiner Funktion enthoben, und die Bürgermeisterei wird laut Heider „total ausgeplündert“.

Am Sonntag beginnen sich die Overather via Telefon und Boten erneut zu organisieren. Heider: „Auch die Landwirte aus den Bürgermeistereien Much und Seelscheid sowie die Arbeiterbevölkerung aus dem Steinenbrücker Raum wurden einbezogen.“ Am Montag bezieht der Selbstschutz, 1500 Mann stark und mit Gewehren bewaffnet, an den Overather Ortsausgängen Stellung. Besonders gut gesichert wird die Brücke am Ortsausgang nach Marialinden, wo auch zwei Maschinengewehre in Stellung gebracht werden.

Maschinengewehre werden in Stellung gebracht

Als die Plünderer hier eintreffen, verhandeln beide Seiten zuerst, doch dann gibt es erneut einen blutigen Zusammenstoß mit einem Toten und vielen Verletzten. Die Kölner werden zurückgedrängt, den nächsten Zug aus Köln fangen die Overather bereits in Lohmar-Honrath ab und erzwingen die Rückfahrt. In der Folge verlagern sich die Plündereien zunächst in andere Gemeinden, insbesondere nach Rösrath, treffen aber auch hier auf wachsenden Widerstand.

Serie

Die „Goldenen 20er Jahre“ stehen für Wirtschaftsaufschwung, für die Blüte von Kultur und Wissenschaft in Deutschland. Für Lebenslust, Dekadenz und Tanz auf dem Vulkan – bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise. Das ist genau 100 Jahre her. In Berlin steppte der Bär: Doch wie sah es zur gleichen Zeit in den Dörfern des Bergischen Landes aus? Darum geht es in unserer Serie „Die Zwanziger im Bergischen“.

Die Zeitungsberichte über die blutigen Krawalle im französisch besetzten Overath veranlassen die Behörden im britisch besetzten Köln, aktiv zu werden. Die Kölner Bahnhöfe werden durch Polizei gesichert, Anfang November wird der Zugverkehr in Richtung Overath und Bensberg eingestellt. Dann wird endlich auch die französische Besatzungsmacht aktiv und stationiert eine Abteilung Kolonialtruppen im Overather Hotel Lindenhof.

Das könnte Sie auch interessieren:

Die Lage beruhigt sich. Heider: „Der Kartoffelkrieg blieb eine schreckliche Episode, die sich selbst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in der sogenannten schlechten Zeit trotz Hungers und Lebensmittelknappheit nicht wiederholt hat.“

Rundschau abonnieren