Jürgen Wiebicke in LeichlingenEine Verabschiedung mit „Memento mori“

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„Die Bereitschaft zu streiten hat gelitten“: Der Kölner Autor Jürgen Wiebicke lieferte bei seinem Aufritt in der Pfarrkirche St. Johann Baptist.

„Die Bereitschaft zu streiten hat gelitten“: Der Kölner Autor Jürgen Wiebicke lieferte bei seinem Aufritt in der Pfarrkirche St. Johann Baptist.

Leichlingen – „Dieses Gefühl, vieles nicht mehr zu verstehen“ – damit versucht Jürgen Wiebicke umzugehen. In der Pfarrkirche St. Johann Baptist hatte der Arbeitskreis Erwachsenenbildung den Moderator und Autor eingeladen, um in der Veranstaltungsreihe „Leichlinger Anstöße“ eine mögliche Antwort auf die Frage zu finden, was Corona uns lehrt.

Gewohnt nachdenklich

In seiner gewohnt nachdenklichen Art regte der aus „Dem philosophischen Radio“ von WDR5 bekannte Kölner an, erst einmal zu bedenken: „Wann kann man einen Vorgang denn verstanden haben?“ Und erwiderte sich selbst auf diese Frage: „Wenn es vorbei ist.“ Beziehungsweise: „Wenn nicht mehr darüber geredet wird“, wie Wiebicke vorschlug. Somit gab er seinem Publikum zwar kaum definitive Antworten, jedoch etwas viel Wertvolleres mit auf den Weg: zahlreiche Anstöße zum eigenen Nachdenken.

Der Journalist geht mit einer bemerkenswerten Offenheit auf Menschen zu. „Wir müssen damit klarkommen, in einer Welt zu leben, die wir nicht mehr richtig verstehen“, meinte Wiebicke und lenkte die Aufmerksamkeit hin zur Selbstreflexion. Das Verhältnis von Corona und Demokratie sowie dem Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik sprach Wiebicke an.

Eine „harte Polarisierung“

Ein Zuhörer ergänzte treffend die mögliche Erweiterung der Verbindung zu einem thematischen Dreieck mit dem Begriff der „Medien“: „Wir müssen auf die Wissenschaft hören, aber was die Gesellschaft daraus macht, das sagt die Politik“, war eine der wenigen konkreten Meinungen, die Wiebicke ausformulierte. Vielmehr machte sich der freie Journalist die Rolle eines aufmerksamen Beobachters zu eigen, anstatt noch weitere Statements in den seit 15 Monaten geführten Diskurs einzuwerfen. Eine „harte Polarisierung“ stellte er fest. „Die Bereitschaft, zu streiten, hat gelitten.“

Für den Versuch, die Welt ein Stück weit besser zu verstehen, zieht Jürgen Wiebicke gerne philosophische Ideen, etwa Hegels „Eule der Minerva“, heran. Dieses affirmative Symbol für Weisheit in Form eines Tieres, das seinen Flug erst in der Dämmerung beginne, untermale seine eigene Auffassung, erst zu einem späteren Zeitpunkt die derzeit aufkommenden Fragen beantworten zu können. Man müsse letztlich in ein positives Verhältnis zu jenen Dingen kommen, für die die Eule stehe. Es als Tugend zu sehen, nicht zu wissen, was kommt.

Veränderung gelehrt

Wie in seinem kürzlich erschienen Roman „Sieben Heringe“ über letzte Gespräche mit seiner sterbenden Mutter, zeigte Wiebicke auch in Leichlingen die Fähigkeit, aus dem Tragischen das Weiterführende, sogar Lehrreiche zu ziehen. „Das verstörende an Corona ist, dass wir es nicht im Griff haben.“ Wie in einer persönlichen Krise, so liegt für ihn auch in einer gesellschaftlichen Krise der Schlüssel in der Kommunikation. „Viele in unserer Gesellschaft waren gut aufgehoben in ihrem Weltbild.“ Corona aber lehrte Veränderung.

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Und gemäß dem nachmetaphysischen Denken gelte es, davor nicht zurückzuschrecken, denn: Es gebe keinen Anspruch auf die eine Wahrheit.

Göttliches Zeichen

Wieso diese Pandemie uns so sehr aus der Bahn zu werfen scheint, erklärte sich Wiebicke damit, dass es die erste in einer Zeit sei, in der eine breite Masse nicht mehr an ein Leben nach dem Tod glaube. Und beinahe wie ein göttliches Zeichen wirkten die genau dann einsetzenden Glockenschläge der Pfarrkirche, als Wiebicke diese Theorie über die Lippen ging.

Auch die spätere Nachfrage des katholischen Organisators zeigte an, dass Wiebicke einen wunden Punkt getroffen hatte: Wer nicht an ein fortgesetztes Dasein glaube, werte das irdische Leben anders. Schon in seinen Gesprächen mit dem Kölner Pfarrer Franz Meurer, vom „Kölner Stadt-Anzeiger“ als Podcast veröffentlicht, schreckte er nicht vor Fragen über die Rolle der Religion für die Gesellschaft zurück. Und am Ende wünschte Jürgen Wiebicke seinen Mitmenschen „Memento Mori“ – „Gedenke des Todes“ – anstelle von „Bleiben Sie gesund.“

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