Abo

„Putin ist ein Gangster“Nobelpreisträgerin spricht bei „Literatur am Dom“ Klartext

Lesezeit 5 Minuten
Nobelpreisträgerin Herta Müller kam nach Altenberg und fand deutliche Worte zum Krieg in der Ukraine.

Nobelpreisträgerin Herta Müller kam nach Altenberg und fand deutliche Worte zum Krieg in der Ukraine.

Odenthal – Eine zierliche Dame bahnt sich den Weg im Altenberger Hof die Treppe hinunter – gegen den Strom der Besucher, die treppauf steigen in den Festsaal des Altenberger Hofes, wo Nobelpreisträgerin Herta Müller beim Festival „Literatur am Dom“ eine Lesung haben wird. „Das ist sie“, raunen einige angesichts des bekannten Gesichtes: Streng gescheitelter Pagenkopf, den sie wie einen Helm trägt, fast unnahbar der Gesichtsausdruck.

Ihre Lebenserfahrung spiegelt sich darin wider, das Leben, das keine Entwicklung, keine freien Gedanken zuließ, die Bespitzelung in dem totalitären Staat Ceaușescus bis zum Zerfall der Sowjetunion und der Ermordung des rumänischen Machthabers. Immer wieder beschrieb sie das „Drama ihres Lebens“, 2009 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur. Mit dem Roman „Atemschaukel“ über die Verschleppung eines jungen Mannes in ein russisches Straflager im Jahr 1945 hat sie ein Meisterwerk geschaffen, das in dieser Zeit des Krieges in der Ukraine neu betrachtet werden sollte.

Herta Müller charakterisiert Putin als Gangster

Deshalb führt Literaturkritiker Denis Scheck die Schriftstellerin zuerst zu einer von tiefem Wissen geprägten Darstellung des Themas Putin – Ukraine. In ihrer prägnanten Sprache entwirft sie ein erschreckendes Bild des obersten Machthabers des Geheimdienstes, Präsident Wladimir Putin: „Putin ist ein Ganove, ein Gangster, er hat schon mit Atomwaffen gedroht, bevor er den Krieg anfing. Ich glaube nicht , dass er sich selbst zerstören will. Ich halte das für eine Einschüchterung." Wenn diese Einschüchterung funktioniere, könnten wir gar nichts mehr machen. Dann bliebe die Ukraine als ein atomar verseuchtes Ruinenfeld übrig, die Leute würden hingerichtet und in Lager gesperrt.

Das könnte Sie auch interessieren:

Putin fühle sich für nichts verantwortlich, immer fühle er sich bedroht, sagt, er muss für seine Sicherheit kämpfen. Müller: "Und es ist alles umgekehrt: Das sind die schäbigen Tricks eines KGB-Beamten, das hat er gelernt, das ist sein Grundwissen. Das Land wird ausgelöscht – ich kann es nicht ertragen. Ukrainer werden jeden Tag auf brutalste Weise ermordet in vollkommener Willkür. Das macht mir mehr Angst als Atomkrieg. Wie sieht die Welt aus, wenn Putin sich durchsetzt?“ Aus eigener Erfahrung weiß Herta Müller, was es bedeutet, in einem totalitären Überwachungsstaat zu leben: „Die Menschen sind von Angst dressiert. Sie glauben, was sie glauben müssen, damit sie unauffällig leben können.“ Wenn man in Gefahr lebe, werde die Angst in alle anderen Dinge eingeordnet.

Müller führt die Zuhörer aus der düsteren Stimmung hinaus

Doch es gibt auch die sanfte Herta Müller, die Wörter als Collagen aus ausgeschnittenen Zeitungsschnipseln zu skurril poetischen Texten zusammenstellt. Es ist eine kluge Regie von Scheck, sie daraus vorlesen zu lassen und die Besucher damit aus der überaus düsteren, belastenden Stimmung herauszuführen. Nach der Lesung signiert die berühmte Schriftstellerin ihre Werke, auch die persönliche Begegnung mit ihr hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck.

Paul Maar

Wieder Kind sein

Vor wunderschöner Kulisse, auf der Freifläche des Küchenhofs, zwischen Dhünn und Blumengarten, liest der 78-jährige Kinderbuchautor Paul Maar vor Kindern, Eltern und Großeltern.

„Meine Kinder waren süchtig nach den Sams-Geschichten“, berichtet Gastgeberin und Organisatorin Sema Prinzessin zu Sayn-Wittgenstein. Doch auch Unwissende werden von Maar aufgeklärt: Das Sams, das an einem Samstag bei Herrn Taschenbier auftaucht und ihn fortan als Papa ansieht, ist ein kindähnliches Wesen mit Rüsselnase und blauen Punkten im Gesicht, diese können Wünsche Taschenbiers erfüllen. Nach einer Kostprobe aus der inzwischen zehnteiligen Buchreihe über das Sams öffnet Maar sein neuestes Werk – den Roman seiner Kindheit in Unterfranken. Er und sein Freund Lud entziehen sich der Welt der Erwachsenen, schießen Pfeile über den Main, bauen sich ein Geheimversteck im Schilf, wo sie einen verlassenen Kahn verstecken. Dann lockt der Fluss, sie begeben sich auf die Reise, steuern den Kahn nur mit einem Stock und einem Brett, verstecken sich vor den großen Leuten – ein Abenteuer, das unmittelbar an Marc Twains Huckleberry Finn und Tom Sawyer erinnert. Es geht ums Überleben irgendwann, denn die beiden Knaben können gar nicht schwimmen. „Man muss das Kind in sich herausspielen, um wieder Kind zu sein“, sagt Maar am Ende seiner kurzweiligen Lesung. (giz)

Noch am selben Abend, um 22 Uhr, beginnt das Kontrastprogramm des Literaturfestivals in der Küche des Altenberger Hofes mit überwiegend neuen Gästen: Drei-Sterne-Koch Dieter Müller, der mit Familie in Odenthal lebt, gibt eine „Küchenparty“ und stellt mit Moderator Scheck eigentlich beiläufig seine Biografie „Wie Deutschland genießen lernte“ vor.

Mariana Leky

Abschied nehmen vom Bestseller

Es heißt Abschied nehmen: Bei „Literatur am Dom“ las Mariana Leky nach eigener Aussage zum letzten Mal aus ihrem Roman „Was man von hier aus sehen kann“ vor. Aktuell, so berichtete sie im Gespräch mit Moderatorin Bettina Böttinger, schreibe sie an ihrem neuen Buch. „Die Figuren dieses alten Schinken dürfen mir nicht immer auf der Schulter sitzen.“ In dem alten Schinken geht es um die Menschen, die Liebe und den Tod in einem kleinen Dorf im Westerwald. Eine alte Frau kann den Tod voraussehen: Ihr erscheint ein seltsames Tier, ein Okapi. Dass Leky sich auf das Neue konzentrieren will, ist verständlich, aber auch schade, denn Leky aus diesem Buch live lesen zu hören, ist etwas Besonderes. Ihre Stimme passt zu der Geschichte. „Warmherzig“ ist ja eine der häufigsten Feststellungen über das Buch in Rezensionen. Und warmherzig kommt die Autorin rüber. Sie erzählt von ihrem Leben, ihren Eltern, beide Psychoanalytiker, und von ihrem Sohn. Da klingt sie wie eine stinknormale Mutter, deren Alltag sich um das Kind dreht. 600 000 Mal ist das Buch verkauft werden verkauft worden. Ein echter Bestseller. Zumindest auf der Bühne ist auch nicht der Hauch von Starallüren bei der Autorin zu spüren. Und was denkt das Publikum nach der Veranstaltung? Wer das Buch kennt, will es noch einmal lesen. Wer es nicht kennt, will es kaufen. Und alle warten auf das neue Buch. (nie)

Inmitten der blitzenden Profi-Küche prostet man sich zu beim Champagner, beobachtet den Virtuosen am Herd, plaudert aufs Herzlichste mit ihm. Aufgewachsen in einem Dorf im Schwarzwald, bezaubert er immer noch mit jungenhaftem Charme und lässt mit Nonchalance ein sechsgängiges „Häppchen-Menü“ servieren – viele verdrehen die Augen vor Wonne bei Gaumenfreuden wie dem „Cappuccino von Curry und Zitronengras mit Garnelenspieß“. Welch ein Kontrastprogramm an diesem Freitag – Herta Müller und Dieter Müller.

Rundschau abonnieren