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Versöhner, Erzähler, Menschenfischer

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Johannes Rau im Mai 2004 bei einer Rede in Hamburg.

Johannes Rau im Mai 2004 bei einer Rede in Hamburg.

Es sind vielleicht vor allem die scheinbare Bruchlosigkeit, die Geradlinigkeit und Folgerichtigkeit dieses Lebens, das sich über eine ganze politische Epoche erstreckte, die so erstaunen. Als Johannes Rau mit 22 Jahren in die Politik ging, da war noch Konrad Adenauer Bundeskanzler. Als er 2004 aus dem Amt des Bundespräsidenten schied, da zeichnete sich schon die Kanzlerschaft der ersten Frau ab. 53 Jahre war er in der Politik, 46 Jahre in politischen Ämtern.

1952 war Rau als Protest gegen die „Wiederbewaffnung“ in die von Gustav Heinemann gegründete Gesamtdeutsche Volkspartei eingetreten. Fünf Jahre später folgte er seinem Mentor in die SPD. Eines ist seltsam: Johannes Rau galt lange als die personifizierte Mitte der SPD, als ihr Herz und Gewissen. Ihr Vorsitzender wurde er nie. Es hätte Gelegenheiten gegeben. Nach dem Rücktritt Willy Brandts zum Beispiel. Vor allem aber nach dem Rückzug Björn Engholms vom Parteivorsitz. Da war Rau schon Übergangsvorsitzender. Er sollte die Urabstimmung moderieren, die dann Rudolf Scharping ins Amt führte. Niemand hätte Rau im Wege gestanden.

Er wollte nicht, wollte sich nicht mit Haut und Haaren der Parteipolitik verschreiben. Er hielt die Position für unvereinbar mit dem Amt als NRW-Ministerpräsident. Auch das ist ja so ein Merkmal seines politischen Lebens gewesen: Durch und durch war er Sozialdemokrat, und dennoch war ein überparteiliches ehrliches Interesse sein Kennzeichen.

Ein anderes Amt wollte er. Unbedingt. 1994 war Rau im dritten Wahlgang gegen Roman Herzog unterlegen. Der wurde Bundespräsident. Rau wartete auf die zweite Chance. Und fast war es zu spät, als er 1999 doch noch ins oberste Staatsamt kam.

Nein, den Reiz des frischen Quereinsteigers, des neuen Akteurs strahlte er nicht aus. Es brauchte lange, bis sich Rau Gehör verschaffte. Er tat es mit oft leisen, glasklaren Reden, die nach den Grundlagen unseres Gemeinwesens fragten. Er war das erste deutsche Staatsoberhaupt, das im israelischen Parlament eine Rede auf Deutsch hielt. Es wurde eine große Rede. „Im Angesicht des Volkes Israel verneige ich mich in Demut vor den Ermordeten, die keine Gräber haben, an denen ich um Vergebung bitten könnte.“

Er fragte in einer anderen Rede nach dem menschlichen Maß des Fortschritts. „Wir sind uns gewiss einig darüber, dass etwas ethisch Unvertretbares nicht dadurch zulässig wird, dass es wirtschaftlichen Nutzen verspricht.“ Raus politische Lebensweg gründete auf einem Fundament, das er in einem Grußwort an die EKD-Synode im November 2003 so zusammenfasste: „Politik, die nicht das Ziel hat, das Leben der Menschen menschlicher zu machen, soll sich zum Teufel scheren.“

„Versöhnen statt spalten“. Der Slogan seines Wahlkampfs um das Kanzleramt 1987 wird mit ihm verbunden bleiben. Die Formel trifft aber auch sein Lebensthema. Dennoch Rau scheute den Konflikt nicht. Das Ministerpräsidenten-Amt erstritt er sich in einer Kampfkandidatur (gegen Diether Posser). Und als Bundespräsident setzte er nicht nur in der Haltung zur Gentechnik Kontrapunkte zum Bundeskanzler.

Tief verwurzelt

im Glauben

Als das, von ihm im Prinzip erwünschte, Zuwanderungsgesetz mit unwürdigen Mitteln im Bundesrat durchgepaukt wurde, rügte er in einem vorher von einem Bundespräsidenten noch nie angeschlagenen Ton Verfahren und Akteure. Und doch: Diese politische Kontinuität ist eigentlich nur der Reflex einer noch tieferen Verwurzelung. „Bruder Johannes“ nannte man ihn, oft leicht spöttisch gemeint. Rau hat es eher als Ehrentitel aufgefasst. Der Sohn eines Laienprediger in Wuppertal-Barmen engagierte sich früh in Bibelkreisen und der bekennenden Kirche. Von dort entlehnte er sein eigentliches Lebensmotto: „Teneo, quia teneor“, (Ich halte stand, weil ich gehalten werde.)

Aber er zog wohl nicht nur Trost und Hoffnung aus der Bibel, sondern eine Lebensfreude, die in seinem unvergleichlichen Humor ihren Ausdruck fand. Es gab kaum eine Sitzung, ein Gespräch, sogar kaum ein Interview, das er nicht mit einer Anekdote oder einem Witz auflockerte. Ein großer Erzähler - das war er auch.

Und noch ein Wesenszug, vielleicht der entscheidende, erhellt sich aus Raus Glauben - seine Hinwendung zu den Menschen. Raus Gedächtnis war berühmt. Er merkte sich die Namen derer, mit denen er gesprochen hatte, die ihm nahe gekommen waren. Er kannte ihre Geburtstage, wusste, was die Familie machte. Und er schrieb. „Einen Güterzug oder mehrere“ könne man mit Raus Briefen füllen, vermutet Jürgen Schmude, sein langjähriger Mitstreiter in Kirche und Partei. Und wer ihm schrieb, bekam Antwort. Darauf war Verlass.

Versöhner, Erzähler, Menschenfischer - am Ende trifft sich das alles, weil es sich zu einem Leben in christlicher Nachfolge ergänzt. Während seiner Amtszeit als Bundespräsident hielt sich Rau mit seinen sonst so geliebten Bibelarbeiten zurück. Dazu kam es erst wieder beim Kirchentag 2005 in Hannover. Da sagte er: „Wenn Menschen meiner Generation mich fragen, was sie weitergeben sollten, dann sage ich ihnen dies: Sagt euren Kindern, dass euer Leben verdankt ist dem Lebenswillen Gottes. Sagt ihnen, dass ohne Kenntnis unserer Geschichte uns eine menschliche Zukunft nicht gebaut werden kann. Und sagt ihnen, dass die stete Bereitschaft zum Aufbruch die einzige Form ist, die unsere Existenz zwischen dem Leben hier und dem Leben dort wirklich ernst nimmt.“

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