Asperger-SyndromUnglückliche Kombination von Genen

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Dr. Peter Schmidt ist Asperger Autist. (Bild: Jens Höhner)

Dr. Peter Schmidt ist Asperger Autist. (Bild: Jens Höhner)

Irgendwann steht fest, dass seine Welt eine andere ist als die seiner Mitmenschen. Peter Schmidt ist gerade mal vier Jahre alt, als er seinen eigenen Staat gründet und kurz darauf dessen Unabhängigkeit ausruft. „Geolucia“ ist indes nicht in dieser Welt zu finden: Es ist die Kolonie einer erdfernen Galaxie. Zudem gibt sich der Junge den Namen Tomai, während ihn die Nachbarn in seiner recht irdischen Heimatstadt Gadenstedt lieber „kleiner Professor“ nennen, weil er alles weiß über Pilze und Kakteen und den Sternenhimmel. Heute ist Peter Schmidt 44 Jahre alt, ein Doktortitel der Geophysik steht vor seinem Namen. Und endlich weiß er, warum sein Leben nur schwer in Einklang zu bringen ist mit dem der Anderen: Peter Schmidt ist Autist, vor drei Jahren wurde bei ihm das Asperger-Syndrom diagnostiziert. „Plötzlich bekam ich alle Antworten auf alle Fragen“, erinnert sich Schmidt, der zudem als hochintelligent gilt.

Der Angestellte eines großen Pharma-Unternehmens weiß, dass er seiner Intelligenz ein Leben verdankt, das viele Autisten niemals führen können. Schuld daran sind fehlerhafte Diagnosen und das Bemühen der Betroffenen, allein mit sich selbst klarzukommen - in dem festen Glauben, dass nicht sie anders sind, sondern eben alle Anderen. Denn nicht jeder Autist kann seine eigene Situation begreifen und reflektieren. „Ich habe durch viele Gespräche gelernt, dass viele Autisten vieles einfach hinunterschlucken“, sagt Peter Schmidt. „Ich habe nicht dazugehört.“ Heute hält er Vorträge zum „Phänomen Autismus“.

Zahlen gibt es allerdings nur wenige. Der Vergleich europäischer Studien legt nahe, dass sich unter 100 Menschen ein Autist befindet. Eine neue Studie der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg / Reutlingen geht unterdessen davon aus, dass sogar 14 bis 15 von 10.000 Schülern eine Störung aus dem Autismus-Spektrum haben. Seitdem die Hirnforschung rasante Fortschritte macht, dringen die Wissenschaftler immer tiefer vor in die Geheimnisse des menschlichen Bewusstseins, der Kommunikation und der Interaktion. „Und wer immer mehr erklären kann, der findet öfter Erklärungen für die Störungen“, schildert Prof. Kai Vogeley von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Kölner Universität.

Der Ursprung und die Frage, ob Autismus vererbt werden kann, sind dagegen noch ungeklärt. „Es ist unwahrscheinlich, dass ein einziges defektes Gen der Auslöser ist“, schildert Vogeley. „Möglich erscheint, dass eine unglückliche Kombination von Genen die Basis für eine Erscheinung wie Autismus bildet.“

Ein weites Spektrum

Einig aber sind sich die Wissenschaftler inzwischen, dass es ein Spektrum weites autistischer Störungen gibt und nicht, wie bisher angenommen, verschiedene Formen. So kämpft derzeit Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus dafür, dass künftig das Asperger-Syndrom nicht länger als „leichte Form“, sondern als gleichberechtigt verstanden wird. „Ein Asperger-Autist muss sich alles einkaufen“, schildert die Verbandsvorsitzende Maria Kaminski aus Osnabrück und spielt auf Therapie-Möglichkeiten und Unterstützungsgelder an, die nach einer Diagnose des Kanner-Syndroms (Frühkindlicher Autismus, im Volksmund „klassischer Autismus“) dagegen sofort bewilligt werden. Maria Kaminski ist selbst Mutter eines 35 Jahre alten Kanner-Autisten, „der selbstbewusst seinen Weg geht, in einer Metallwerkstatt arbeitet und gern in die Disko geht“. Das verdanke der Sohn einer erfolgreichen und vor allem früh angesetzten Therapie. „Die Unterstützung dafür aber mussten wir damals vom Staat einklagen“, erinnert sich Kaminski. Sie rechnet damit, dass die Unterscheidung zwischen Kanner- und Asperger-Syndrom in den kommenden Jahren Vergangenheit und damit die Gleichstellung gegeben ist.

Erste Symptome sind schon im Säuglingsalter feststellbar: „Ein Kind beginnt etwa mit sechs Wochen zu lächeln“, erklärt die Professorin Beate Herpertz-Dahlmann. Sie leitet die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Aachen. „Ein autistisches Kind aber erwidert zum Beispiel das Lächeln der Mutter nicht. Es tut sich schwer damit, Dinge zu imitieren und damit zu lernen.“ Das gelte auch für den Spracherwerb, wobei sich etwa ab dem dritten Lebensjahr die Ausprägung der Behinderung definieren lasse und damit die Abgrenzung vom Asperger-Syndrom möglich sei. Dessen Symptome sind oft erst später feststellbar.

Peter Schmidts Eltern schöpfen keinen Verdacht. „Es hieß damals immer, dass Autisten nicht sprechen und sich abschotten“, erklärt der Niedersachse. Und dass er etwas wunderlich und gern allein ist, begründen die Eltern damit, dass der Sohn mit Morbus Hirschsprung, einem fehlentwickelten Dickdarm, zur Welt gekommen ist und die ersten fünf Monate nach der Geburt im Krankenhaus verbringen muss. Später geht Peter Schmidt zur Schule wie alle anderen Kinder. Mit unumstößlicher Zuverlässigkeit schreibt er Einsen in allen Mathematik-Arbeiten und den Diktaten, während es für Aufsätze immer nur Vieren gibt. Niemand ahnt, dass der Schultag stets mit einem Anflug von jenem fernen Planeten verbunden ist, weil der Junge schon lange beschlossen hat, sich den irdischen Zwängen nicht länger zu beugen. „Ich habe zum Beispiel darum gekämpft, in den Pausen in der Bibliothek bleiben zu dürfen“, erzählt Schmidt. Denn wie viele Autisten, so hasst auch er Lärm jeglicher Art. Und die Stille liebt er. Zuflucht findet er immer bei der Tante, für sie ist er der „kleine Prinz“: Sie lässt sich auf den Jungen ein, spielt mit ihm. „Bei ihr durfte ich so sein, wie ich sein wollte.“ In der Schule ist es sein Riesen-Glück, wie er sagt, dass er von Anfang an der Lieblingsschüler des Lehrers ist. „Ich habe am ersten Schultag aus Rechen-Bauklötzen den Eiffelturm gebaut, der war so filigran, dass der Lehrer das niemals vergessen hat.“ An eine Schulbegleitung durch einen ausgebildeten Betreuer ist damals noch nicht zu denken. Peter Schmidt schafft die Schule locker, macht das Abitur, studiert in Clausthal und promoviert in Kiel.

Einzigartiges Projekt in Köln

Bei Fragen nach Betreuungsmöglichkeiten steht heute der Bundesverband mit Sitz in Hamburg betroffenen Eltern zur Seite. 40 Jahre alt ist die Gemeinschaft, die sich als Sprachrohr und Interessensvertretung versteht. Ihm und seinen 54 Regionalverbänden, so die Vorsitzende Kaminski, sei die Einrichtung vieler Therapiezentren zu verdanken. Tatsächlich ist deren Zahl in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen - und damit auch die der Patienten. „In den vergangenen fünf Jahren haben wir 400 Menschen untersucht“, berichtet Professor Vogeley aus Köln. „Bei 170 Patienten haben wir dann die Autismus-Diagnose gestellt.“ Von diesem Menschen, ergänzt Vogeley, lebe mindestens ein Drittel von Hartz IV, „weil sie sich eben in ein gewöhnliches Leben nicht einfügen können“. Die Zahl der Männer überwiege dabei. Um sie in die Gesellschaft einzugliedern, hat sich an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie jüngst ein Arbeitskreis gegründet, in dem Vertreter von Werkstätten und Arbeitsamt sowie Integrationsexperten vertreten sind. Das einzigartige Projekt soll helfen, autistische Personen wieder in den Beruf zu bringen.

Peter Schmidt hat seinen Weg allein geschafft. „Wer neue Wege gehen will, muss ohne Wegweiser auskommen“, ist der Leitspruch des Mannes, der sein Leben als Straße durch bisweilen unwegsame Landschaften versteht - ein Trick, um klarzukommen mit den Anforderungen des Alltags. Irgendwann einmal hat dieser Weg in einer fernen Galaxie begonnen. Heute weiß Schmidt, dass eine Abzweigung eine ganz besondere gewesen ist: Seit 17 Jahren ist er verheiratet. Das Paar hat einen Sohn (15) und eine Tochter (12). Ein Glück, dass vielen Autisten verwehr bleibt.

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