Chinesische MedizinDer „ganze“ Mensch

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Kliniken und Arztpraxen bieten immer häufiger Akupunkturbehandlungen an. (Bild: dpa)

Kliniken und Arztpraxen bieten immer häufiger Akupunkturbehandlungen an. (Bild: dpa)

Seit über 20 Jahren ist die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) auch bei uns auf dem Vormarsch. Anfangs noch skeptisch von Schulmedizinern als esoterischer Firlefanz abgetan, entwickelte sich die fernöstliche Heilkunde im Westen längst zur ernsthaften Alternative.

Einer aktuellen Umfrage des Allensbach-Instituts zufolge bevorzugen mittlerweile fast zwei Drittel aller Patienten eine Kombination aus chinesischer und westlicher Medizin; hatten die Befragten bereits Erfahrungen mit TCM, lag die Zustimmung sogar fast bei 90 Prozent.

Populärstes Element der Traditionellen Chinesischen Medizin ist die Akupunktur, die mittlerweile von den Krankenkassen unter bestimmten Umständen, beispielsweise im Rahmen der Schmerztherapie, bezahlt wird.

"Doch TCM ist ein Heilsystem, das aus verschiedenen Elementen besteht", erläutert Gerd Wiesemann, Leiter des Bonner Instituts Mercurius, das in Zusammenarbeit mit chinesischen Universitäten Mediziner aus- und weiterbildet. "Die Akupunktur macht darin nur fünf bis zehn Prozent aus, obwohl sie im Westen am weitesten verbreitet ist." Das wichtigste Standbein im vierstufigen System stellt die Kräutertherapie dar, die nach ausführlicher Untersuchung individuell auf den Patienten abgestimmt wird.

Weitere Behandlungselemente bilden Ernährungs-und Bewegungslehren (Tai Chi, Qi Gong) und Massagen. "Dieses Heilsystem besteht unabhängig von der westlichen Medizin seit 4000 bis 5000 Jahren, und das bedeutet einen ganz anderen Ansatz. Wir müssen uns dieses Heilsystem ganzheitlich vorstellen", erklärt Gerd Wiesemann.

Im Vordergrund steht deshalb die Prophylaxe, also die Gesunderhaltung von Körper, Geist und Seele. Ist deren Balance gestört, kommt es zu so genannten Befindlichkeitsstörungen, die nach der Traditionellen Chinesischen Medizin die Mehrheit aller Erkrankungen darstellen, die keine klar diagnostizierbaren Ursachen haben - dazu gehören etwa diffuse Schmerzen, Schlafstörungen, Erschöpfung oder Verdauungsprobleme, aber auch Entzündungen oder Autoimmunerkrankungen.

Kein Wunder, dass die TCM Anlaufstelle von Menschen ist, die nach Lesart der Schulmedizin "austherapiert" sind. Das sind oft Patienten, die jahrelange Pilgerwege von Arzt zu Arzt hinter sich haben und in dieser Zeit sozusagen "scheibchenweise" von Körperteil zu Körperteil durchleuchtet worden sind.

Diese lokale Fokussierung kennt die TCM nicht. Und so geht es bereits bei der ersten Untersuchung darum, "ein Krankheitsbild im Gesamten zu formen," wie es Wiesemann ausdrückt. Das persönliche Gespräch zwischen Therapeut und Patient spielt dabei die wesentliche Rolle. Eine möglichst genaue Anamnese der Beschwerden wird erstellt. "Dazu betrachten wir auch Gesicht und Zunge", erklärt Gerd Wiesemann. "Wir tasten, riechen die Ausdünstungen von Mund und Haut, lauschen auf Sprache und Stimme."

In Verbindung mit "konventionellen" Untersuchungsmethoden wie Blutbild, Pulsdiagnose oder Röntgenverfahren wird dann festgestellt, "welche Strukturen des Körpers wurden geschwächt"? Erst dann wird eine individuelle Therapie erarbeitet. "Wir setzen nie das gleiche Mittel für die gleiche Krankheit ein", so Wiesemann. "Das wird der TCM oft zum Vorwurf gemacht, denn die Prüfverfahren der Institute greifen nicht".

Dennoch verzeichneten die Behandlungen Erfolge, versichern ihre Verfechter, auch wenn es keine Garantie dafür gebe. Die Politik der kleinen Schritte, das Ausprobieren verschiedener Maßnahmen sowie das "Querdenken" gehören zur Strategie. "Wir arbeiten nicht so schnell wie die Notfallmedizin", betont Wiesemann. Selbstverständlich seien in Akutsituationen andere medikamentöse oder operative Maßnahmen nötig. In modernen TCM-Kliniken arbeiten Schulmediziner und TCM-Therapeuten längst Hand in Hand. "Wir betrachten uns nicht als Konkurrenz zur westlichen Schulmedizin, sondern wir wünschen uns eine enge Zusammenarbeit," bestätigt Gerd Wiesemann. Dazu gehöre auch, TCM als Begleittherapie einzusetzen.

Ihre Fragen

beantwortet Gerd Wiesemann morgen von 11-13 Uhr unter (0221) 1632-222.

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