FriedhofsführungPompöse Grabmäler voller Geheimnisse

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Außergewöhnliche Exkursion auf dem Friedhof am Platanenweg: Die pompösen Grabmäler von Sinti und Roma waren Ziel von 40 Teilnehmern. (Foto: Kehrein)

Außergewöhnliche Exkursion auf dem Friedhof am Platanenweg: Die pompösen Grabmäler von Sinti und Roma waren Ziel von 40 Teilnehmern. (Foto: Kehrein)

Bonn – Vor 47 Jahren stand der Friedhof am Platanenweg im Mittelpunkt einer spektakulären Beerdigung, wie es sie dort vorher noch nie gegeben hatte. Wie ein Lauffeuer hatte es sich herumgesprochen, dass in Beuel erstmals ein „Zigeunerkönig" seine letzte Ruhestätte finden würde. Neugier und Interesse begleiteten deshalb einen noch völlig unbekannten Beerdigungskult. So wurde die außergewöhnliche Beisetzung von Spekulationen und viel Sensationserwartung verfolgt. Zugleich legte dieses Ereignis vom Jahre 1964 aber den Grundstein für eine neue Friedhofskultur und für viele nachfolgende Verabschiedungs-Zeremonien für verstorbene Stammesangehörige von Sinti und Roma.

Pompöse und verschwenderisch mit Marmor aus aller Welt geschaffene „Erinnerungstempel" lassen sich mittlerweile aus dem Erscheinungsbild des Beueler Friedhofs nicht mehr verdrängen. Immer mehr Besucher pilgern zu diesen Stätten und Denkmälern. Sie stehen häufig ratlos vor den Ansammlungen gigantischer Monumente der Bildhauer- und Steinmetzkunst, aber zugleich auch fasziniert. Zu den Beuelern, die die Oase der Ruhe auf dem Friedhof am Platanenweg immer wieder aufsuchen, gehört auch die Bezirksverordnete Gisela Gebauer-Nehring (SPD). Da sie und mit ihr viele andere gerne mehr wüssten über Herkunft, Bräuche, Sprache und Alltag von Sinti und Roma, organisierte die Beueler Politikerin einen Rundgang durch die Gräberlandschaft am Platanenweg. Die Führung übernahm Kulturwissenschaftlerin Dr. Dagmar Hänel vom Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Rheinland.

Eigene Kultur und Sprache

40 Teilnehmer hatten sich zu dieser Exkursion eingefunden. Die Wissenschaftlerin ging zunächst auf Herkunft und Wesenszüge der vor 600 Jahren aus Indien zugewanderten Gruppen der Roma und Sinti ein, streifte die historische Entwicklung der 70.000 Angehörigen dieser ethnischen Minderheit und verwies auf deren eigene Kultur in Sprache, Lebensalltag und Brauchtum. Beim Spaziergang über den Friedhof stand natürlich im Vordergrund der Umgang mit dem Tod und die unterschiedlichen Auffassungen vom Jenseits und dem Verhältnis der Lebenden zu den Toten. Dr. Hänel berichtete, dass es das Bestreben der kleinen Volksgruppe sei, die Gräber ihrer Angehörigen von den Ruhestätten anderer räumlich zu trennen. Dies geschehe durch Umzäunung, durch Ankauf größerer Friedhofsflächen oder früher durch Mauern (aus dieser Zeit der Begriff „Friedhofsmauern").

Trotz Platzregen und Gewitter suchten die Teilnehmer mehrere Monumente aus vergangenen Jahren, aber auch aus jüngster Vergangenheit auf. Die Wissenschaftlerin des Landschaftsverbandes deutete an Ort und Stelle einige Besonderheiten an den monumentalen Aufbauten. Mit Tischen und Bänken bestückte Grabstätten-Reviere sollen dazu dienen, bei Besuchen der Angehörigen länger zu verweilen. Als besonderen Besuchstag im Jahr erwähnte Dr. Hänel den jeweiligen Allerheiligentag. Bei dieser Gelegenheit würden sich Sippenangehörige von nah und fern zu längeren Aufenthalten auf dem Friedhof treffen. Man führe dort rege Gespräche mit den Verstorbenen, verzehre Mitgebrachtes und genehmige sich gelegentlich ein Schnäpschen auf deren Wohl. Außerdem werden Kerzen entzündet, Blumenangebinde mitgebracht oder andere Zeichen der Verehrung hinterlegt. So konnte man auch schon beobachten, dass beim Abschied zum Trost für „König“, Familienoberhaupt oder Sippenchef eine dicke Havanna-Zigarre hinterlassen wurde.

Regelmäßige Anreise zu Pützchens Markt

Unübersehbar an vielen Gedenkstätten der Sinti und Roma sind Madonnenfiguren und andere religiöse Symbole. Was ein Hinweis darauf ist, dass diese Volksgruppe dem katholischen Glauben zuzurechnen ist. Eine weitere Auffälligkeit besteht darin, dass der Verstorbenen mit Konterfei im Sonntagsstaat, als Büste oder Denkmal in Lebensgröße gedacht wird.

Warum gibt es seit fast 50 Jahren gerade in Beuel am Platanenweg die wohl aufwendigsten Grabmonumente in der Andeutung von Mausoleen? Eine mögliche Antwort führt zu Pützchens Markt. Im Vorfeld der rheinischen Großkirmes treffen sich seit vielen Jahrzehnten die im Volksmund immer noch so genannten „Zigeunersippen" auf ihren Landfahrerplätzen. Aus der mehr als 600-jährigen Chronik von Pützchens Markt weiß man aber auch, dass die Landfahrer damals zum Marktgeschehen mit verschiedenen Darbietungen zum Inventar gehörten. Wobei der traditionelle „Zigeunerball“ bei „Traudchen Weber“ den Abschluss der rheinischen Großkirmes bildete. So dürfte bis zum heutigen Tag Verbindung und Tradition mit Pützchens Markt erhalten sein.

Nach dem Rundgang über den Friedhof blieben dennoch viele Fragen offen. Zum Beispiel die Finanzierung der pompösen Grabmonumente und der städtischen Liege-Areale, die Wahl von „Königen“, Patriarchen oder Sippen-Oberhäuptern, Brauchtum bei Hochzeiten, Taufen und anderen Anlässen oder die Austragung von Sippenfehden.

Fest steht wohl, dass der Friedhof am Platanenweg mittlerweile als ein Zentrum der Bestattungskultur von Sinti und Roma zu betrachten ist.

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