Kein Zähneputzen mehr?Neuer Wirkstoff soll Zähne reparieren und Löcher schließen

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Loch im Zahn

Ein Loch im Zahn - dafür ist nicht immer nur schlechtes Zähneputzen verantwortlich.

Ein Schnitt in der Haut ist nach ein paar Tagen meist verheilt. Ein gebrochener Knochen braucht allenfalls ein paar Wochen, bis er wieder zusammengewachsen ist. Die meisten Gewebe des menschlichen Körpers sind mit einer erstaunlichen Fähigkeit zur Selbstregeneration ausgestattet. Anders sieht es bei den Zähnen aus: Eine abgeschlagene Ecke oder ein von Bakterien gefressenes Loch bleiben unbehandelt so, wie sie sind. Die Karies wird mit der Zeit sogar eher noch schlimmer. Allen Fortschritten zum Trotz bleibt Zahnärzten daher bis heute nichts anderes übrig, als Defekte im Gebiss mithilfe von Kunststoff, Zement, Keramik oder Metall zu reparieren.

Hilfe zur Selbstheilung

Künftig könnte sich das ändern. Britischen Forschern ist es bei Mäusen gelungen, zerstörte Zähne zur Selbstheilung anzuregen - mithilfe eines Wirkstoffs, der unter anderem zur Behandlung von Alzheimer und Krebs getestet wird und zumindest nach jetzigem Wissensstand keine ernsthaften Nebenwirkungen zu haben scheint. Paul Sharpe vom King's College in London und seine Kollegen brachten die Substanz, einen sogenannten GSK-3-Inhibitor, auf ein Schwämmchen aus Kollagen auf und füllten damit Löcher, die sie zuvor in die Zähne ihrer Versuchstiere gebohrt hatten.

Stammzellen aktiviert

Daraufhin begannen die dort vorhandenen Stammzellen, neues Dentin zu produzieren - also jenes knochenähnliche Gewebe, das den größten Teil der Zahnsubstanz ausmacht (siehe Grafik). Wie die Forscher im Online-Fachblatt Scientific Reports berichten, waren die mutwillig verursachten Löcher in den Mäusezähnen sechs Wochen nach dem Eingriff wieder zugewachsen.

"Sharpe und sein Team haben einen schon lange währenden Traum verwirklicht", begeistert sich Ralf Smeets, bis vor kurzem Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Grundlagenforschung in der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Genial und auch neu sei vor allem die Kombination von Substanz und Trägermaterial, sagt der Facharzt für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf: "Da die Kollagenschwämmchen mit der Zeit vom Körper resorbiert werden, verschwindet auch der Wirkstoff - sodass der Zahn irgendwann auch wieder aufhört, neues Dentin zu produzieren."

Auch Smeets Kollege von der Berliner Charité, Sebastian Paris, ist der Ansicht, dass es sinnvoll ist, die Selbstheilungskräfte der Zähne weiter zu erforschen. "Im Kleinen wenden wir die Methode von Sharpe und seinem Team ja jetzt schon an", sagt der Leiter der Abteilung für Zahnerhaltungskunde und Präventivzahnmedizin. "Wenn wir bei der Entfernung den Zahnnerv freilegen, versuchen wir mit einem Verfahren, das direkte Überkappung genannt wird, den Nerv - anders als bei einer Wurzelbehandlung - am Leben zu erhalten und den Zahn zur Neubildung von Dentin anzuregen", erläutert der Wissenschaftler.

Ganze Löcher lassen sich schließen

Die britischen Kollegen seien nun noch einen Schritt weiter gegangen und hätten gezeigt, dass sich zumindest im Tiermodell auch ganze Löcher wieder schließen lassen könnten. Neues, lebendiges Gewebe zu schaffen, sei in jedem Fall besser, als einen Zahn mit toten Materialien zu verschließen, sagt Paris. "Auf diese Weise könnte der Zahn weiterhin auf äußere Einflüsse reagieren und würde seine gewünschten mechanischen Eigenschaften sehr wahrscheinlich beibehalten."

Sowohl der Berliner Zahnmediziner als auch sein Hamburger Kollege Smeets - der von April an übrigens ebenfalls an der Charité forschen wird - sind sich der möglichen Grenzen der innovativen Methode allerdings bewusst. Zum einen sind Mäusezähne im Vergleich zum menschlichen Pendant sehr klein. Ob sich auch größere Löcher, wie sie im Gebiss des Menschen vorkommen, über die Aktivierung von Stammzellen stopfen lassen, ist noch ungewiss. Relativ sicher ist hingegen bereits, dass der Heilungsprozess nicht wie bei den Mäusen wenige Wochen, sondern mehrere Monate dauern würde.

Die dreckigste Region des Körpers

Zum anderen konnten die Forscher um Sharpe unter weitgehend sterilen Bedingungen arbeiten. Im menschlichen Mund herrscht ein ganz anderes Milieu: "In einem Milliliter Speichel tummeln sich bis zu eine Milliarde Keime", sagt Smeets. "Der Mund ist somit, salopp gesagt, die dreckigste Region des Körpers." Ob das Verfahren der Briten dort ebenfalls komplikationslos ablaufen wird, ist daher noch fraglich. "Zumindest bei einem schon entzündeten Zahnnerv, wo auch die direkte Überkappung nicht sonderlich gut funktioniert, könnte es schwierig werden", sagt Paris.

Auch in einem anderen Punkt sind sich die beiden Experten aus Deutschland einig: "Anders als zuletzt vielfach zu lesen war, könnte man selbst bei einem Einsatz der neuen Methode nicht aufs Bohren verzichten", sagen sie übereinstimmend. Denn bevor der Zahn neues Dentin bilden solle, müsse das alte, geschädigte Gewebe erst einmal mit dem Bohrer entfernt werden. Ganz angenehm würde ein Zahnarztbesuch mit kariösen Zähnen also auch künftig nicht werden. Selbst auf den Einsatz von totem Füllmaterial würde man nicht komplett verzichten können. Denn der Zahn ist zwar ein Leben lang in der Lage, in begrenztem Maße Dentin zu produzieren - nicht aber den wichtigen Zahnschmelz, der ihn als äußere, härteste Schicht vor aggressiven Einflüssen schützt. "Man wird also einen neu gebildeten Zahn immer auf irgendeine Art und Weise versiegeln müssen", sagt Paris.

Marktreif in vier bis sechs Jahren

Entscheidend für die Frage, ob das Verfahren aus London tatsächlich irgendwann beim Menschen angewandt wird, ist nicht zuletzt der Kostenaspekt. Denn die Herstellung von GSK-3-Inhibitoren ist zumindest derzeit nicht gerade billig. "Aktuell spräche die Kosten-Nutzen-Relation der Methode vermutlich eher gegen ihren Einsatz", sagt Smeets. Dennoch könne er sich vorstellen, dass das Verfahren in vier bis sechs Jahren marktreif werde - und dann insbesondere für Kariespatienten in Betracht komme, bei denen der Zahnnerv bereits frei liegt, aber noch nicht entzündet oder anderweitig geschädigt ist.

"Bis es so weit ist, wird die Wissenschaft noch einige Fragen klären müssen", betont Paris. Zunächst müsse man in Experimenten an größeren Säugetieren und später auch beim Menschen nachweisen, dass die Methode wirklich sicher sei und gegenüber den jetzigen Strategien klare Vorteile erbringe.

Paul Sharpe selbst, der seit fast zwanzig Jahren die Selbstheilungskräfte von Zähnen erforscht, ist sich jedenfalls ziemlich sicher, dass seine jüngste Idee Eingang in die Therapie beim Menschen finden wird. Die Schlichtheit seines Ansatzes, so schreibt er am Ende seiner Studie, mache diesen ideal für Behandlungen, bei denen es darum gehe, den Zahnnerv zu schützen und neues Dentin aufzubauen.

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