Nicht leibliche KinderFamilie ist nicht nur Vater, Mutter, Kind

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Lesbische Eltern

Eine Kernfamilie muss nicht immer aus Vater, Mutter, Kind bestehen. Hier miteinander verheiratetes lesbisches Paar mit seinem Sohn.

Vater - Mutter - Kind. So sieht auch heute noch für die meisten das klassische Familienbild aus. Immerhin mehr als zwei Drittel der Deutschen empfindet dies als die beste Lebensform. Das ergab 2013 eine Yougov-Umfrage. Doch Familie ist längst nicht Familie. Das Familienleben ist vielfältiger geworden. Neben der Normfamilie werden heute viele Kinder in alternativen Familienformen groß oder leben in familiären Konstellationen, in denen sie nicht oder nicht nur mit leiblichen Eltern zusammenleben. Soziale und biologische Bande sind längst nicht mehr identisch. Schätzungen gehen davon aus, dass inzwischen jedes vierte Kind in einer anderen Familienform als der Kernfamilie lebt.

Das bunter gewordene Familienleben empfinden viele als bereichernd. Und doch kann es auch anstrengend sein, wenn Mann oder Frau mit Kindern zusammenlebt, die nicht die eigenen sind. Warum das so ist und worauf zu achten ist, damit das Miteinander gelingt, darüber sprach Angela Horstmann mit der Patchwork-Familientherapeutin Katharina Grünewald und dem Jugendpsychotherapeut Wolfgang Oelsner.

Frau Grünewald, Herr Oelsner: Immer mehr Kinder leben heute in familiären Konstellationen, in denen sie nicht oder nicht nur mit den leiblichen Eltern zusammenleben. Was macht diese Kinder so besonders und warum sind solche Konstellationen auch schwierig?

Katharina Grünewald: All diesen Kindern gemein ist, dass sie anders als eigene leibliche Kinder immer schon mit dem Paket ihrer Vergangenheit außerhalb der jetzigen Familie kommen. Vor allem wenn sie schon etwas älter sind, merkt man, dass da bereits andere Selbstverständlichkeiten oder Familienprinzipien sind, die oftmals ganz unbewusst und ohne Worte auch in die neue Familienkonstellation hineinwirken. Wolfgang Oelsner: Diese Kinder stehen für etwas "Fremdes", das "Nicht-Eigene" in einer Beziehung. Bei solchen Begriffen zuckt man zunächst zusammen und möchte sie gerne meiden. Lieber spricht man vom "Kind des Partners" oder vom "angenommenen Kind". Wobei ich finde, dass man durchaus das Gefühl zulassen darf, dass ein Kind "fremd" und "nicht das eigene" ist - wissend, dass es dabei nicht bleiben muss und dass sich mit viel Liebe daraus auch eine große Vertrautheit entwickeln kann.

Ist diese Liebe fragiler als die zu eigenen Kindern?

Oelsner: In gewisser Weise schon. Wenn im Laufe der Jahre z.B. in der Pubertät Probleme auftauchen, dann kann es Phasen geben, wo die Liebe schwerer fällt und manchmal vielleicht auch der Gedanke in den Kopf schießt "Woher hat das Kind das? Das kann es nicht von mir haben. Das ist doch nicht normal". In dem Moment übersieht man schnell, dass einem "eigene Kinder" in dem Alter manchmal auch recht fremd vorkommen können. Grünewald: Als Mutter und Stiefmutter würde ich sagen, dass es immer einen Unterschied in der Art der Liebe gibt. Schließlich stoßen ja eigentlich zwei Fremde aufeinander. Selbst wenn man ein gutes Verhältnis zu seinem Stiefkind hat, ist es ein anderes Verbundenheitsgefühl als zum leiblichen Kind. Denn für die leiblichen Kinder bleibe ich immer die Mutter, sie haben keine andere Wahl. Das Stiefkind hat die Wahl. Abgesehen davon muss ich als Stiefmutter ja nicht die Mutterrolle einnehmen. In der Regel gibt es ja noch eine Mutter, zu der die Kinder auch Kontakt haben.

Jetzt haben wir so viel über Liebe gesprochen. Sind die Bedingungen dafür nicht bei all diesen Eltern-Kind-Verhältnissen sehr schwierig? Nicht selten steht am Anfang ja erst einmal eine Verletzung - sowohl bei Stiefkindern als auch bei Pflege- oder Adoptivkindern.

Oelsner: Ja, bei Adoptiv- und Pflegekindern steht am Anfang ein Abgegebenwerden oder gar Weggenommenwerden. Das ist schmerzlich und eine unglaubliche Kränkung. Aber es folgt dann ein Angenommenwerden und damit eine zweite Chance für die betreffenden Kinder.Grünewald: Bei Scheidungskindern ist es natürlich zunächst der Schmerz darüber, dass sich Mama und Papa getrennt haben. Je nach Alter ist das für die Kinder eine Riesenkatastrophe, für die sie sich nicht selten selbst die Schuld geben.

Woran liegt das?

Grünewald: Im Kindergartenalter und Anfang des Grundschulalters glauben Kinder noch, dass sie "allmächtig" sind wie Prinzessin Lillifee oder Superman. Sie sind fest davon überzeugt, dass sie die Welt bewegen können - im Positiven wie im Negativen. Wenn sich Eltern trennen, glauben die Kinder nicht selten, dass sie daran Schuld haben, z.B. weil sie nicht immer lieb oder nicht gut genug in der Schule waren. Sie sind aber auch überzeugt davon, dass sie es wieder richten könnten. Aus diesem Gefühl heraus entwickeln manche Kinder hochsensible Antennen und ein extremes Verantwortungsgefühl, so dass sie ihre ganze Energie darauf verwenden zu schauen, wie geht es der Mutter oder dem Vater und nicht, wie geht es ihm selbst. Extrem gesprochen werden die Kinder zu einer therapeutischen Instanz für ihre Eltern.

Was hat das für Folgen?

Grünewald: Viele der Kinder sind sozial sehr angepasst. Sie haben überhaupt keinen Raum, ihre eigene Gefühlswelt zu explorieren und den Umgang mit Wut oder Traurigkeit zu lernen. Abgesehen davon - und das ist vielleicht das noch viel größere Problem - empfinden die Kinder oft ein unglaubliches Zerrissensein zwischen der Mama- und der Papawelt.

Wie kann man den Kindern helfen mit diesem Loyalitätskonflikt umzugehen?

Grünewald: Wichtig sind klare Absprachen der Eltern. Wenn Eltern klare Entscheidungen treffen, z.B. wann das Kind bei wem sein darf und wie mit bestimmten Situationen umgegangen wird, dann ist das Kind aus diesem Konflikt heraus und kann seine Loyalität zu beiden Seiten ausleben. Manchmal müssen die Eltern dann zwar Entscheidungen treffen, die das Kind nicht so gerne mag. Aber nicht immer ist das, was das Kind will, auch das was es braucht. Solche Entscheidungen sind aber nicht trennungsspezifisch, die gibt es permanent im normalen Familienalltag. Diesen Frust muss ein Kind ertragen. Oelsner: Loyalitätskonflikte zu lösen ist sehr anstrengend und mühsam, aber sie gehören zur Lebensreife dazu. Kinder brauchen allerdings dabei Hilfe und ein Umfeld, das kompetent damit umgeht.

Auch Adoptiv- oder Pflegekinder erleben einen Loyalitätskonflikt zu ihren leiblichen Eltern?

Oelsner: Ja, aber in der Regel erst zu einem viel späteren Zeitpunkt. Auch wenn sie schon früh wissen, dass sie adoptiert sind und vielleicht selbst von einer "Bauchmama" sprechen, ist ihnen anfangs noch nicht bewusst, was das für sie bedeutet. Jugendliche hingegen kann es ohne Vorankündigung in eine Loyalitätskrise stürzen.

Wäre es nicht besser, Ihnen gar nichts zu sagen?

Oelsner: Nein, auf keinen Fall. Ich plädiere dafür, Adoptiv- und Pflegekindern möglichst früh die Wahrheit zu erzählen. Das ist besser als später eine Rolle rückwärts machen zu müssen und einen Vertrauensbruch zu riskieren.Grünewald: Die Kinder spüren in der Regel sowieso, dass da was ist. Und es wäre schlimm, wenn man diese Kinder mit dem Zweifel leben lässt, ob sie wirklich zur Familie gehören.

Zu wissen, dass es da noch jemand gibt, ist das eine. Pflegekinder müssen laut Gesetz aber auch regelmäßig Kontakt zu den leiblichen Eltern haben. Vergrößert das nicht nur den Loyalitätskonflikt?

Oelsner: Das ist in der Tat ein Riesenproblem. Und die jetzige Regelung ist sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss und sollte überdacht werden. Das Problem ist, dass man zwei Güter abwägen muss, die beide für die Entwicklung eines Kindes wichtig sind, nämlich die Beziehung zu den leiblichen Eltern zu erhalten und gleichzeitig, eine neue Beziehung aufzubauen. Allerdings ist entwicklungspsychologisch gesehen die Elternposition nur einmal zu vergeben. Mir sagte einmal ein Pflegevater: "Man erwartet von mir, dass ich alle Väterlichkeit in die Beziehung zu dem Kind einbringe, aber ich darf nicht Vater sein". Das beschreibt das Dilemma gut.

Ist dieses Dilemma ein Grund dafür, dass Pflege- und Adoptivkinder häufiger in therapeutischer Behandlung sind?

Oelsner: Jedenfalls sagen das die Statistiken. Ob diese Kinder mehr Probleme haben oder man bei ihnen einfach mehr sensibilisiert ist, wäre allerdings zu fragen. Vielleicht hat man auch einfach eine andere Hemmschwelle zum Therapeuten zu gehen, wenn es eben nicht "das eigene Kind" ist.

Mit welchen Problemen kommen diese Kinder zum Therapeuten?

Oelsner: Kinder, die bindungsunsicher aufwachsen, bleiben noch lange in einem gewissen Alarmmodus. In neuen Konstellationen, sei es nun die Pflegefamilie oder die Patchworkfamilie, kann der wieder aktiviert werden und äußert sich beispielsweise in Unaufmerksamkeit, motorischer Unruhe oder auch Impulsstörungen.

Warum tauchen Probleme mit Pflege- oder Adoptivkindern oft mit der Pubertät auf?

Oelsner: Weil im Zuge der Identitätsfindung Bezugssysteme hinterfragt werden. Und wenn Eltern sich auch mal unbeliebt machen und Nein sagen - gerade auch in der Pubertät - kann das Wissen um "noch andere Eltern" wie eine reale Option auf eine "zweite Heimat" erscheinen: "Wie würden die jetzt reagieren, wenn mein Leben dort weitergegangen wäre?"

Was kann man als Pflege- oder Adoptiveltern tun, um den Kindern den Schmerz über das Abgegebenwordensein etwas zu lindern?

Oelsner: Es kommt auch darauf an, was man den Kindern über ihre leiblichen Eltern erzählt. Kinder empfinden das Abgegebenwerden als Kränkung gegen sich selbst. Umso wichtiger ist, ihnen klar zu machen, dass die leiblichen Eltern ihm das Leben geschenkt haben, es aber nicht behalten konnten, sie aber wollten, dass das Kind gut leben kann. Grünewald: Solch lebensgeschichtliche Anhaltspunkte sind wichtig, damit das Kind das Gefühl hat: Die Eltern haben etwas für sich getan, nichts gegen mich.

Und was können denn Stiefeltern tun, um zu einem guten Miteinander mit den Kindern des Partners/der Partnerin zu kommen?

Grünewald: Ich denke man sollte auf keinen Fall krampfhaft versuchen, alles richtig zu machen, um bloß nicht die böse Stiefmutter zu sein. Genauso wenig sollte man versuchen, das Kind in die Schablone etwa eines zehnjährigen Jungen zu pressen, der vermutlich wie alle anderen Jungs in dem Alter bestimmte Vorlieben hat. Vielmehr sollte man mit dem Kind vorsichtig in Kontakt treten und schauen, was macht es tatsächlich gerne. Wo gibt es vielleicht Gemeinsamkeiten. Wichtig ist, dass man sich dabei nicht verbiegt und schaut, wozu man selbst auch Lust hat. Ein guter Kontakt ist der Anfang einer guten Beziehung.

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