ÜbelkeitDas kann man gegen Reisekrankheit machen

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Mama, mir ist schlecht!" Solche Hilferufe von der Rückbank des Autos können Familien die Fahrt in den Urlaub schnell verderben. Vor allem Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren sind sehr anfällig für die Reisekrankheit, auch Kinetose genannt. Doch warum reagiert der Körper so absonderlich? Und weshalb sind Menschen so unterschiedlich empfänglich für diese Form von Übelkeit?

"Die Reisekrankheit beruht auf einem Kommunikationsproblem im Kopf", sagt Prof. Tomas Jelinek, wissenschaftlicher Leiter des CRM Centrum für Reisemedizin Düsseldorf. Die Sinnesorgane, die zur Orientierung im Raum laufend Signale an das Gehirn leiten, senden nämlich widersprüchliche Botschaften. Zum Beispiel melden das Gleichgewichtsorgan im Innenohr sowie die Druckrezeptoren am Körper bei einer kurvigen Strecke rasche Richtungs- und Geschwindigkeitsänderungen.

Fehlalarm des Körpers

Schaut man währenddessen in ein Buch oder auf einen Bildschirm, registriert das Auge einen Stillstand und gibt diese Nachricht weiter. "Einen solchen Widerspruch ist das Gehirn nicht gewohnt. Es kriegt die Krise und zieht sozusagen die Notbremse. Die Reisekrankheit ist also eine Kurzschlussreaktion des Gehirns", erklärt Jelinek. Die Folgen sind Blässe, kalter Schweiß, Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen. Die Symptome kann man damit erklären, dass der Körper in einen Alarmzustand versetzt wird und verstärkt Stresshormone ausschüttet. Dabei wird über komplizierte Mechanismen auch das Brechzentrum im Gehirn aktiviert. Welcher evolutionäre Sinn hinter der Reaktion steckt, ist allerdings unklar. "Eigentlich ist Erbrechen ja eine Schutzfunktion des Körpers, um z.B. giftige Stoffe loszuwerden", sagt Prof. Frank Schmäl von der Schwindelambulanz des Zentrums für HNO Münster/Greven.

Unterschiedliche Auslöser

Es gibt viele unterschiedliche Situationen, die Kinetosen auslösen können: zum Beispiel eine rasante Karussellfahrt, eine Schifffahrt bei hohem Seegang, eine kurvenreiche Autofahrt, ein Segelflug oder ein Aufenthalt in der Schwerelosigkeit. Selbst längeres Liegen in Wasserbetten und Kamelritte bekommen empfindlichen Personen nicht gut. Reisekrank werden in der Regel nur die Passagiere: Fahrer oder Piloten, die ein Gefährt steuern, bleiben meistens verschont, und zwar deshalb,weil sie die gefühlten Bewegungen optisch auch registrieren, wie Schmäl erklärt.

Die Reisekrankheit gilt nicht als Erkrankung, sondern als ein meist harmloser Fehlalarm des Körpers, der seit Jahrtausenden bekannt ist. Auch Cicero, Lord Nelson und Heinrich Heine litten bereits an dem Phänomen. Nicht immer verläuft das "Fische füttern" aber so lustig, wie der Ausdruck vermuten lässt. Jelinek berichtet: "In schweren Fällen sind die Auswirkungen auf die Psyche sehr stark. Das kann im Extremfall dazu führen, dass die Betroffenen sich aufgeben und selbst töten." So ist es vorgekommen, dass schwer seekranke Passagiere in ihrer Verzweiflung über Bord gesprungen sind.

Nur 15 Prozent sind immun

Kaum jemand ist vor Kinetosen ganz gefeit: Schmäl zufolge sind nur fünf bis 15 Prozent der Menschen immun dagegen. Umgekehrt sind es etwa fünf bis zehn Prozent, die sehr schnell reagieren. "Das liegt daran, dass das Gleichgewichtssystem der Menschen unterschiedlich empfindlich ist", erklärt Schmäl. Wer leicht reisekrank wird, sagt er, dem wird auch nach einer Narkose schneller übel. Und dass Kleinkinder unter zwei Jahren noch gar nichts spüren, liege daran, dass sich der Gleichgewichtssinn bei ihnen noch entwickeln müsse. Im Alter lässt die Empfindlichkeit wieder stark nach: "Bei hohem Wellengang sieht man bei Kreuzfahrten, dass sich jüngere Leute in die Kabinen verziehen, während sich Senioren mit ihren Rollatoren völlig ungerührt an Deck vergnügen", berichtet der HNO-Arzt.

Frauen öfter betroffen als Männer

Frauen werden schneller reisekrank als Männer - insbesondere dann, wenn sie ihre Periode haben oder schwanger sind. "Auf jeden Fall tragen die Hormone dazu bei, ihre Empfindlichkeit zu erhöhen", sagt Schmäl. Auch Menschen, die zu Migräne neigen, sind anfälliger . Daneben erhöhen Alkohol, muffige Luft, fettreiche Speisen ebenso wie ein leerer Magen das Risiko, der Reiseübelkeit zu erliegen. Glücklicherweise gewöhnt sich das Gehirn mit der Zeit an die schwankenden Bewegungen. Nach spätestens vier Tagen an Bord eines Schiffes ist kaum noch jemand seekrank. Verlässt man es wieder, macht den Passagieren oft der feste Boden unter ihren Füßen zu schaffen: Sie haben das Gefühl, weiter den Wellengang unter sich zu spüren - es handelt sich um den sogenannten "adaptive after-effect", der bei Astronauten sogar einige Tage anhalten kann.

Nicht für das Fahren gemacht

Außerdem speichert das Gedächtnis die Erfahrungen, die man an Bord gemacht hat. "So lässt es sich erklären, dass Menschen auch dann reisekrank werden, wenn sie in einem Erlebniskino einen Film schauen, der ihnen vortäuscht, in einer Achterbahn zu fahren", sagt Schmäl. Auch Ängste und schlimme Empfindungen in Zusammenhang mit der Reisekrankheit prägen sich ein: Eine negative Erwartungshaltung erhöht das Risiko dafür, dass man sich wieder schlecht fühlt, ganz entscheidend. Wer ein Schiff also bereits mit der Angst betritt, dass ihm "bestimmt gleich übel wird", der wird wahrscheinlich recht behalten. Das erklärt umgekehrt, warum bei Kinetose Placebos besonders gut wirken.

Ansonsten helfen in schweren Fällen verschreibungspflichtige Pflaster mit dem Stoff Scopolamin, der in natürlicher Form unter anderem im Stechapfel vorkommt. "Die Pflaster sind wirksam, haben aber große Nebenwirkungen. Daher sollte man Nutzen und Risiken genau abwägen", gibt Jelinek zu bedenken. Ohne Rezept erhältlich sind Antihistaminika wie Dimenhydrinat und Diphenhydramin, die in Form von Dragees, Tabletten, Kapseln oder Kaugummis angeboten werden. Sie haben eine insgesamt dämpfende Wirkung, die auch in unangenehme Müdigkeit umschlagen kann. Weitgehend frei von Nebenwirkungen sind dagegen Ingwer-Kapseln, die in leichteren Fällen erwiesenermaßen helfen können: "Sie sind zwar nicht sehr potent, sind aber auf jeden Fall ein sinnvolles Basismedikament", sagt Jelinek.

Der Mensch ist nicht für Gefährte gemacht

Letztendlich beruht die Reisekrankheit aber wohl darauf, dass die menschlichen Sinne von Gefährten aller Art überfordert sind. Anthropologen erklären sie damit, dass der Homo sapiens ursprünglich eben nicht für Fahrzeuge, sondern nur für die Fortbewegung zu Fuß ausgelegt ist. Kein Wunder also, dass Raumfahrten noch gewöhnungsbedürftiger sind als Kamelritte. Tieren geht es oft auch nicht besser: Nicht nur Hunden, Katzen und Pferden kann beim Transport schlecht werden, sogar Fische müssen mitunter spucken, wenn ihre Aquarien bewegt werden.

Das sind die besten Gegenstrategien

Schlafen: Man kann gefürchtete Überfahrten von vornherein in die Nacht legen und die Übelkeit einfach verschlafen. Das funktioniert vor allem bei Kindern gut.

Essen: Weder zu viel noch zu wenig. Auf fettreiche, schwer verdauliche Speisen sollte man vor Reisebeginn verzichten, ebenso auf Alkohol. Leichte Kost (Zwieback, Obst, Kekse) ist empfehlenswert. Ein leerer Magen verhindert die Übelkeit nicht, sondern macht nur noch anfälliger.

Sitzplatz: In Bussen und Autos sollten sich Menschen, die zur Reisekrankheit neigen, nach vorne setzen und freie Sicht durch das Frontfenster haben. Im Flugzeug sind Plätze im Bereich der Tragflächen geeignet. Bei Schiffsreisen empfiehlt es sich, eine Kabine in der Mitte direkt über dem Wasserspiegel zu buchen. Dort ist es am ruhigsten. Ansonsten verbringt man viel Zeit an Deck.

Blickrichtung: Wer während der Fahrt liest, schreibt oder auf einen Bildschirm oder auf sein Smartphone schaut, fördert die Reisekrankheit. Statt auf Objekte an Bord des Fahrzeugs zu schauen, sollte man den Blick in die Ferne richten. Frischluftzufuhr und regelmäßige Pausen sind hilfreich.

Vitamin C: Hochdosiertes Vitamin C kann, etwa eine Stunde vor Reisebeginn eingenommen, das Risiko für Reiseübelkeit reduzieren. Bei einer Studie erzielte eine Gruppe, die Vitamin C (zwei Gramm) genommen hatte, etwas bessere Ergebnisse als diejenigen, die nur ein Placebo geschluckt hatten. Ablenkung: Auch Entspannungstechniken und Musikhören können helfen, der Übelkeit vorzubeugen. Angst und Anspannung wirken dagegen kontraproduktiv. Ansonsten sind auch Akupressur-Bänder und Spezial-Brillen gegen Reiseübelkeit auf dem Markt. Wie wirksam sie sind, ist unklar.

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