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Fatale Entscheidung „zum Wohle des Kindes“Fragen und Antworten zur Schmerzensgeldklage gegen das Erzbistum Köln

Lesezeit 5 Minuten
Der angeklagte katholische Priester wird in den Gerichtssaal geführt.

110 Fälle von teils schweren Missbrauchsdelikten: Der Geistliche Hans-Bernhard U. (im roten Anorak) wird im Februar 2022 in den Kölner Gerichtssaal geführt.

Melanie F. verlangt  850.000 Euro vom Erzbistum Köln. Wird die Diözese erneut darauf verzichten, Verjährung geltend zu machen?

Das Erzbistum Köln sieht sich mit einer zweiten Schmerzensgeldklage eines Missbrauchsopfers konfrontiert: Die Missbrauchsbetroffene Melanie F. verlangt insgesamt 850.000 Euro vom Erzbistum. Davon seien 830.000 Euro Schmerzensgeld und 20.000 Euro Therapiekosten, sagte der Bonner Rechtsanwalt Hans-Walter Wegmann, der die Frau gemeinsam mit seinem Kollegen Eberhard Luetjohann vertritt, der Rundschau.

Was wirft Melanie F. dem Erzbistum vor?

Öffentlich bekannt geworden ist der Fall von Melanie F. Anfang 2022 durch den Prozess gegen den früher unter anderem in Gummersbach tätigen Pfarrer Hans-Bernhard U., den das Landgericht Köln wegen insgesamt 110 Fällen des Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilte. Die heute 56-jährige Melanie F. konnte nur als Zeugin gehört werden, denn U.s Verbrechen an ihr sind strafrechtlich verjährt.

In den 1970er und 1980er Jahren hatte sie bei U. als Pflegetochter gelebt – zunächst während seiner eigenen Ausbildung als Diakon in Alfter, später, nach der Priesterweihe, während seiner Zeit als Kaplan in Kerpen. Nach ihrer eigenen Aussage hatte U. sie schon als Zwölf- oder 13-Jährige zum Wetttrinken mit einer Flasche Likör animiert und sie jahrelang sexuell missbraucht. Zweimal sei sie von U. schwanger geworden. Beim ersten Mal habe dieser ohne ihr Wissen eine Abtreibung bei ihr vornehmen lassen (Vorwand: „Verhütung“), beim zweiten Mal, nun mit etwa 18 Jahren, habe sie sich selbst dazu entschlossen.

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Das alles wäre nicht möglich gewesen, wenn der damalige Erzbischof Joseph Kardinal Höffner dem Geistlichen nicht die Aufnahme von Pflegekindern gestattet hätte. „Zum Wohle des Kindes“, so habe Höffner seine Entscheidung begründet. U.s Verhalten als Pflegevater habe das Erzbistum zu keinem Zeitpunkt kontrolliert. Einer Auflage, eine Haushälterin einzustellen, kam U. nie nach, ohne dass dies Konsequenzen gehabt hätte.

Wie wird die Klage begründet?

Das Anwaltsteam um Luetjohann hatte bereits den Missbrauchsbetroffenen Georg Menne gegen das Erzbistum vertreten, dem das Landgericht Köln 300.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen hatte – verlangt hatte der Kläger 750.000 Euro. Im Fall Melanie F. sei der Verschuldensgrad der Kirche sogar noch höher als im Fall Menne, sagte Anwalt Wegmann der Rundschau, Höffner habe weitaus „vorsätzlicher“ gehandelt als bei Menne, der als Messdiener in Kontakt zum späteren Täter kam.

Auch der in Münster lehrende Kirchenrechtler Thomas Schüller sieht im Gespräch mit der Rundschau „eine klare Verantwortung bei Kardinal Höffner und seinen leitenden Klerikern“. Inwiefern sie bewiesen werden könne, werde der Prozess zeigen: „Da vertraue ich auf die unabhängige deutsche Justiz, die hier Klarheit ins Dunkel bringen wird.“

Aber warum gehen die Anwälte nicht gegen den inhaftierten (und mittlerweile aus dem Priesterstand entfernten) U. vor und gegen die seinerzeit zuständigen Jugendämter? Letzten Endes war es ja auch in den 1970er Jahren Aufgabe dieser Ämter, Pflegekinder zuzuweisen und für ihr Wohlergehen zu sorgen. Man halte sich ans Erzbistum, sagt Wegmann, weil man es als angesichts seiner !„massiven“ Fehler als den „eigentlichen Verursacher“ des Leids seiner Mandantin sehe.

Wie soll sich das Schmerzensgeld bemessen?

Während Schmerzensgeldansprüche bei körperlichen Schäden seit Jahrzehnten anerkannt seien, setze sich dieser Gedanke bei seelischem Leid erst langsam durch, so Wegmann. Als wichtiger Schritt dorthin darf wohl das Menne-Urteil gelten – auch wenn es noch nicht rechtskräftig ist. Menne und seine Anwälte prüfen weiterhin Rechtsmittel.

Dass damals weniger als die Hälfte des geforderten Schmerzensgeldes zuerkannt wurde, hatte das Kölner Gericht unter anderem so begründet: „Wir möchten das Leiden nicht schmälern, aber: Sie leben, Sie haben geheiratet, Sie haben Kinder und einen Beruf.“ Verglichen damit gehe es Melanie F. viel schlechter, sagt Wegmann. Sie könne nur eingeschränkt arbeiten und habe durch den Prozess gegen U. eine Retraumatisierung erlitten.

Macht das Erzbistum Verjährung geltend?

Der Menne-Prozess war nur möglich geworden, weil Erbischof Rainer Maria Kardinal Woelki darauf verzichtete, Verjährung geltend zu machen. Wird er wieder so handeln? Nach Angaben des Erzbistums ist die Klageschrift noch nicht eingegangen. Wenn sie da sei, werde Kardinal Woelki mit den für Vermögensverwaltung zuständigen „beispruchsberechtigten“ Gremien sprechen  und entscheiden. Kommt er überhaupt am Präzedenzfall Menne vorbei? Und könnten sich andere Bistümer anders verhalten?

Schüller weist darauf hin, dass Woelki im Fall Menne die Verjährungsfrage der Rechtskommission des Verbandes der Diözesen Deutschlands vorgelegt habe. Da habe es „verschiedene Sichtweisen“ gegeben. „Es ist demnach politisch nicht ausgemacht, dass alle Diözesen auf die Einrede auf Verjährung verzichten werden.“ Zumal dürfe das Kirchenvermögen ohne Rechtsgrund keinen Schaden leiden – deshalb gebe es Fachleute in den bischöflichen Verwaltungen, „die auf die Gefahr der Untreue hinweisen“.

Was heißt das für die Kirchenfinanzen?

Anwalt Wegmann berichtet von rund 100 Betroffenen, die sich allein bei seinem Bonner Anwaltsteam gemeldet hätten – auch aus anderen Bistümern in Bayern und im Norden, auch aus der evangelischen Kirche. Was passiert, wenn immer mehr Klagen erfolgreich sind und am Ende die Rücklagen von Bistümern und Landeskirchen, die sie für solche Fälle nutzen, aufgebraucht sind?

Schüller verweist auf den Mainzer Bischof Peter Kohlgraf, der dieses Problem schon offen angesprochen hat: Irgendwann bleibe nur noch die Möglichkeit, auf laufende Kirchensteuereinnahmen zuzugreifen. Die dürften bis 2030 einigermaßen stabil bleiben. Und dann? Am Ende könnte sich die Frage der Insolvenz stellen, wenn nicht im rechtlichen, so doch im faktischen Sinne, dem der Zahlungsunfähigkeit.

Betroffene, so Schüller, wiesen zwar auf die weiter laufenden Kirchensteuereinnahmen hin. Aber, so Schüller: „Allerdings wäre zivilrechtlich zu prüfen, inwiefern dies zulässig wäre, denn die Bistümer/Landeskirchen sind ja zum Beispiel durch ihre vielen Beschäftigungsverhältnisse ebenfalls vertragliche Bindungen eingegangen.“

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