Eurovision Song ContestWarum landet Deutschland immer hinten?

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(FILES) The completed stage to be used at the Eurovision song contest (ESC) is pictured at the Malmo Arena, shown to the media at a press conference in Malmo, Sweden on April 25, 2024. "It's an opportunity for us to represent our culture. To show that we've got so much more to give people," Ukrainian singer Jerry Heil -- the stage name for Yana Chemaieva -- told AFP in an interview. "We just need to be visible," she said. A week of Eurovision Song Contest festivities kicked off on May 4, 2024 in the southern Swedish town of Malmo, with 37 countries taking part. (Photo by Johan NILSSON / TT News Agency / AFP) / Sweden OUT

Fertig für die Show: Die Bühne für den Eurovision Song Contest (ESC) in Malmö (Schweden).

Sind die Lieder zu schlecht? Die Künstler nur Mittelmaß? Oder mag Europa uns einfach nicht? Eine schonungslose Analyse der deutschen ESC-Misere.

Malik Harris, Jendrik, Levina und S!strs : Platz 25. Lord of The Lost und Jamie-Lee: Platz 26. Ann-Sophie: Platz 27. Seit vielen Jahren läuft es für Deutschland beim Eurovision Song Contest alles andere als rund. Dass Michael Schulte 2018 auf Platz 4 landete, scheint fast ein Versehen, auf jeden Fall ein Ausrutscher in Sachen deutscher ESC-Bilanz. Auch für Isaac, der mit „Always on the run“ für uns am 11. Mai beim Finale in Malmö antritt, sieht es bislang mau aus: Bei der Abstimmung der Fanclubs gab es praktisch keine Punkte, und die Wettbüros sehen ihn ganz hinten.

Während in anderen Ländern die Champagner-Korken knallen, rauft man sich zwischen Nordsee und Alpen die Haare. Aber woran liegt es? Schicken wir einfach zu schlechte Lieder ins Rennen? Sind die Künstlerinnen und Künstler, die für uns antreten, Mittelmaß? Oder mag uns Europa einfach nicht?

Nun könnte man das Ganze abtun mit „Ist doch nur ein Schlagerwettbewerb“, aber damit wird man dem ESC nicht gerecht: Nach wie vor ist er der größte TV-Musik-Wettbewerb weltweit – zwischen 160 und 200 Millionen Zuschauer insgesamt haben sich in den letzten Jahren die beiden Halbfinalrunden (Dienstag und Donnerstag) und das Finale am Samstag angeschaut. Doch weder Zuschauer noch Fachjurys konnten sich für die Beiträge made in Germany erwärmen. Was lief bislang falsch? Das sagen internationale Experten:

1. Der Wettbewerbsgedanke

„Deutschland fokussiert sich zu sehr auf das Wort ,Song' und nicht auf ,Contest', also Wettbewerb“, findet Ewan Spence von der renommierten Internetseite „ESC Insight“. „Du brauchst einen Knall, dein Beitrag muss die Leute dazu bringen, zum Telefon greifen zu wollen. Ein Lied kann toll sein, aber wenn man es sich erst dreimal anhören muss, um richtig gepackt zu werden, dann wählen die Leute den Typen im grünen Bolero“, sagt Spence in Erinnerung an den finnischen Beitrag aus dem letzten Jahr.

„Der ESC ist eine sehr, sehr lange Show, und man hat 30 Sekunden, um die Zuschauer für sich zu gewinnen – ansonsten: Pinkelpause!“, weiß der australische Radio-Reporter Alistair Birch. „Der kroatische Beitrag in diesem Jahr von Baby Lasagna kriegt dich mit dem ersten Ton.“

Bei der Auswahl müsse das Land Mut beweisen. „Es bringt keine Punkte, wenn es bei allen auf Platz 11 landet“, so der Schotte Spence. „Aber wenn ein Lied für die eine Hälfte des Publikums das Beste ist, was sie je gehört haben und die andere Hälfte es so schrecklich findet, dass sie es nicht mal ihrem schlimmsten Feind auf den MP3-Player packen würden, kann es vielleicht in die Top 3 kommen.“

„In diesem Jahr hat sich Deutschland für einen guten Sänger mit einer starken Stimme entschieden, aber nicht für ein Lied, das hätte gut abschneiden oder zumindest ein sogenannter Fan-Favorit werden können“, so Torbjörn Ek von der schwedischen Zeitung „Aftonbladet“.

ARCHIV - 17.02.2024, Berlin: Isaak, Gewinner des deutschen ESC-Vorentscheids, steht am Ende des Eurovision Song Contest - Das deutsche Finale 2024 auf der Bühne. 



Isaak tritt für Deutschland beim Wettbewerb ESC an. (zu dpa: «Auftritt vor Millionen Menschen») Foto: Christoph Soeder/dpa - Honorarfrei nur für Bezieher des Dienstes dpa-Nachrichten für Kinder +++ dpa-Nachrichten für Kinder +++

Isaak, Gewinner des deutschen ESC-Vorentscheids.

2. Der nationale Vorentscheid

Unser Vorentscheid wirkt auf die Experten wie ein Gemischtwarenladen. „Es wird alles mögliche reingeworfen, alle möglichen Stile“, so die Analyse von Robin Scott, der im Vereinigten Königreich für eine Reihe von Radioprogrammen ESC-Beiträge liefert. Die einzige Konstante in den letzten Jahren sei Barbara Schöneberger. Generell ist es sicher ein Problem, wenn die Moderatorin mehr Charisma hat als diejenigen, die später in einer Riesenarena und vor einem Millionenpublikum abliefern müssen.

Deutschland mangele es – anders als Frankreich oder Italien – an einer musikalischen Identität für den ESC, so das Urteil von Ewan Spence. Sein Vorschlag: Ein paar Jahre hintereinander Lieder derselben Musikrichtung schicken, etwa solche, zu denen man auch in Berliner Nachtclubs tanzen würde. Auch wenn man damit vielleicht zunächst auf die Nase falle, baue sich eine Reputation auf – die dazu führe, dass sich etablierte Komponisten für den Contest engagieren. Dies verstärke darüber hinaus das Interesse der Plattenfirmen.

Wie wichtig dies sein kann, hat Alistair Birch beobachtet, als Australien die ersten Male teilnahm: „Alle Künstler waren bei der Sony unter Vertrag, und hinter den Kulissen gab es wohl eine auf mehrere Jahre angelegte Vereinbarung, um langfristig australische Künstler in Europa bekannter zu machen.“

In Sachen Sendeplatz sind sich die Experten einig: Statt ihn am späten Freitagabend zu verstecken, muss der deutsche Vorentscheid ebenfalls am Samstagabend zur gleichen Zeit wie später das ESC-Finale stattfinden. „Freitags schaut eine andere demografische Gruppe zu als am Samstagabend“, so Birch.

Gibt es in Deutschland eine wirkliche Leidenschaft für den ESC?
Robin Scott, Experte aus Großbritannien

Eine Samstagabend-Show würde insgesamt mehr Einsatz des Senders erfordern, um an diesem wichtigen Sendeplatz eine gute Einschaltquote zu erzielen. Vielleicht ändert sich das Ganze schon im nächsten Jahr. „Gerüchte besagen ja, dass der WDR das übernehmen könnte, denn viele denken, dass der NDR das schon viel zu lange macht“, so Robin Scott.

Man könnte auch ein erfolgreiches Konzept wiederbeleben in der Art der Zusammenarbeit mit Pro 7, das uns unter anderem den Sieg von Lena 2010 beschert hat. Aber Torbjörn Ek warnt davor, nur einen Kandidaten auf diesem Wege wählen zu lassen, wie 2004 Max Mutzke. Durch die Präsenz in den Sendungen von Stefan Raab ging er als haushoher Favorit in den Vorentscheid. „Das würde in Zukunft etablierte Künstler davon abhalten, mitzumachen“, so Torbjörn Eks Vermutung.

3. Stichwort Leidenschaft

„Gibt es in Deutschland eine wirkliche Leidenschaft für den ESC?“, fragt sich Robin Scott. „Als der Wettbewerb 2011 in Düsseldorf stattfand, war ich zehn Tage lang jeden Tag in der Stadt und habe keine Begeisterung gespürt.“ Und das, obwohl man im Jahr zuvor mit Lena gewonnen hatte.

Diesen Funken vermisst Scott auch bei den deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der vergangenen Jahre, die er interviewt hat. „Sie wirken nie so, als wollten sie beim ESC sein – eher als habe ihnen jemand gesagt, geh da hin und stell dich auf die Bühne.“ Auch Isaac sei ein netter, angenehmer Gesprächspartner, „aber nicht fesselnd. Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie er mit der Kamera interagiert.“ Stefan Raab habe dieses Feuer gehabt, schon als er als Komponist Guildo Horn nach Birmingham begleitet habe. „Und Sam Ryder sah immer aus wie ein fröhlicher Hundewelpe, so glücklich darüber, dabei zu sein – das kann man nicht spielen“, begeistert sich Ewan Spence über den britischen Teilnehmer von 2022.

Oder Conchita Wurst. Nie vorher und sicher auch nie wieder danach hat Tom Neuwirth so großartig gesungen wie beim ESC-Finale 2014. Der Österreicher setzte alles auf eine Karte – und das Publikum erlebte drei Minuten lang einen Künstler, der alles gab – und noch eine Schippe drauf legte.

„Wie kann Deutschland also erwarten, dass man für seinen Beitrag abstimmt, wenn es selber keinen Enthusiasmus für seine Lieder aufbringt?“ formuliert Robin Scott das Manko.

4. Die Bühnenshow

Feuer, Licht und Trickkleider – manchmal hat man das Gefühl, der Wettbewerb könnte auch in Eurovision SHOW Contest unbenannt werden. Und Deutschland? „Ihr schickt oft gute Lieder, aber oft werden die Künstler damit auf der Bühne allein gelassen“, findet Jouni Pihkakorpi, der Präsident des finnischen ESC-Fanclubs. „Und dann erinnert sich niemand daran, dass Deutschland dabei ist.“

„Deutschland entscheidet sich wiederholt dazu, Lieder auf eine Art und Weise zu präsentieren – in dem Wissen, dass sie sowieso bei ESC nicht gut abschneiden“, sagt Alistair Birch. „Oder sie versuchen zu clever sein“, ergänzt Robin Scott in Bezug auf den nach wie vor völlig rätselhaften Ein-Minuten-Auftritt von Dita van Teese im Song „Miss Kiss Kiss Band“ (20. Platz, 2009).

Ich bin gespannt, ob die ARD erst wieder in der Eurovisionswoche aufwacht.
Jouni Pihkakorpi, ESC-Fanclub Finnland

Dass Michael Schulte so erfolgreich war, hat für Alistair Birch auch mit der Bühnenpräsentation seinerzeit zu tun: „In dem Jahr in Portugal hatte man die LED-Wände verbannt. Deutschland brachte eine eigene mobile LED-Wand mit und der Auftritt sah damit um Lichtjahre besser aus als all die anderen.“ Ob Michael Schulte in einem „normalen“ Jahr Platz 4 erreicht hätte, bleibe also fraglich.

5. Die Aufmerksamkeit im Vorfeld

Allgemein betrachtet sei Deutschland – anders als die USA, England, Frankreich oder Italien – kein Land, das man mit großen musikalischen Erfolgen in Verbindung bringt, denkt Robin Scott.

„Länder, die beim Song Contest selten gutabschneiden, erhalten von den Fans und den Jurys weniger Aufmerksamkeit“, hat Torbjörn Ek beobachtet. Schweden habe aufgrund seiner guten Ergebnisse da sicher einen Vorteil. „Aber aufgrund der größeren Aufmerksamkeit bekommen wir auch manchmal mehr Punkte, als wir verdienen“, gibt er freimütig zu.

Die Lieder, die im Vorfeld Neugier erzeugen, werden häufiger bei Spotify oder Youtube abgerufen, was Auswirkungen auf die Wettbüros oder die Berichterstattung in den Medien hat – was wiederum dazu führt, dass sich die Leserinnen und Leser diese Lieder anhören wollen. Auch wenn ein Lied im Vorfeld gehypt wird, das man nicht mag, hört man es sich vielleicht mehrmals an, um zu verstehen, worin die ganze Aufregung besteht.

Ein immerwährender Kreislauf, schlecht für den, der darin nicht vorkommt.

Bleibt also die gute alte PR-Kampagne. „Darf dieser Mann für Deutschland singen?“ wurde in Bezug auf Guildo Horn gefragt. Im Nachhinein wurde bekannt, dass sein damaliges Management diesen Coup ausgeheckt hatte. Geschadet hat sie niemandem, alle hatten Guildo lieb, und es reichte für Platz 7.

Eine echte Geschichte umgab den späteren Sieger von 2017, den Portugiesen Salvador Sobral. Er konnte an den Proben nicht teilnehmen, weil er erkrankt war – seine Schwester sprang in dieser Zeit für ihn ein. Zunächst wurde ein Geheimnis um die Erkrankung gemacht, dann wurde erklärt, dass er auf ein Spenderherz wartete.

Aber für Ewan Spence bleibt offen, wie viel von einer bewegenden Geschichte sich auf das Endergebnis auswirkt. „Wenn am Abend eine andere Teilnehmerin toll tanzt und echtes Feuer hat, kann das alles verändern.“

Die Unterstützung des Beitrages muss schon beim Sender anfangen. So wird Olly Alexander in der Serie „East Enders“ auftreten. „Das sieht zwar außerhalb Großbritanniens niemand, aber es trägt zum ,Buzz' bei“, sagt Spence. Und es zeige den anderen Ländern den Zusammenhalt innerhalb der BBC und die gemeinsame Unterstützung des eigenen Liedes. „Ich bin gespannt, ob die ARD wieder erst in der Eurovisionswoche aufwacht und merkt, dass sie einen Teilnehmer im Wettbewerb hat“, flachst Jouni Pihkakorpi.

Letztlich ist es also eine Kombination aus gutem Material und großer Begeisterung. Und eine Portion Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. „Lena hätte nicht gewonnen, wäre sie ein Jahr zuvor, also 2009, gegen Alexander Rybak und ,Fairytale' angetreten“, ist sich Ewan Spence sicher. „Aber ich glaube, dass für jedes Land alle 10,15 Jahre einfach alles stimmt – und wenn es diese Chance ergreift, kann es sehr gut abschneiden.“

Nach dieser Rechnung könnten wir für also 2025 Hoffnung schöpfen ...

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