Selbstverteidigung für FrauenVorbereitet sein für den Notfall

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Der Angreifer kommt von vorne. Er greift nach Dorothea Blümels Hals, will sie würgen. Doch die 44-Jährige rammt ihr Knie zwischen seine Beine. Sein Griff löst sich, er krümmt sich vor Schmerz. Blümel schlägt ihm den Ellbogen in den Rücken – der Weg ist frei, sie rennt davon.

Blümel stoppt nach einigen Schritten. „Jetzt alle nachmachen!“, ruft sie. Es ist der Selbstverteidigungskurs des Polizeisportvereins. Acht Frauen stehen in Sportkleidung im Kreis und proben, was die Trainerinnen vormachen. Noch etwas scheu deuten sie Griffe und Tritte an und prägen sich die Abläufe ein.

Die Älteste von ihnen ist Mitte 60, die Jüngste gerade 16. Den Ernstfall, den Überfall auf der Straße, hat noch niemand hier erlebt. Doch sie wollen gewappnet sein. „Man hört ja so viel“, sagt die 65-jährige Agnes Tedsen. An vier Terminen lernen sie deswegen Grundsätze des Ju-Jutsu kennen, der Kampfkunst, die auch die Polizei anwendet. Dabei wissen sie spätestens seit dem ersten Treffen: Der Unbekannte, der nachts aus dem Nichts auftaucht, ist nur bei einem Drittel aller Vergewaltigungen und Überfälle der Täter. Häufiger kommt die Aggression von Verwandten, Kollegen, Freunden und Bekannten.

Ob der Täter vorher bekannt ist oder nicht: Die Techniken, die heute auf dem Plan stehen, sind für den Ernstfall gedacht. Für den „roten Bereich“, wie Blümel es ausdrückt: Wenn der Täter nicht mehr nur tatscht oder fummelt, wie im gelben Bereich, sondern schlägt, würgt und vergewaltigt. Die Gegenwehr ist dementsprechend rabiat. Der „Pressluftschlag“ mit gewölbten Händen auf die Ohren des Angreifers soll Trommelfelle platzen lassen und so auch einen körperlich überlegenen Angreifer schocken. Dasselbe gilt für den „Hodenquetscher“: Testikel greifen, quetschen, drehen – geht in fast jeder Situation. „Die Frauen sollen sich ihrer Waffen und Möglichkeiten bewusst sein“, sagt Blümel, „und die Schwachstellen ihres Gegners kennen“.

Ab und zu verfallen sie dabei ins Kichern. Es ist ungewohnt, einen fremden Menschen anzuschreien. Noch seltsamer, einfach zuzuschlagen. Keine der Frauen hat eine Kampfsportart gelernt, keine hat sich schon einmal geprügelt. Hier dürfen sie zum ersten Mal zuschlagen, so fest sie nur können: Auf die Box-Pratzen, die ihre Partnerinnen ihnen entgegenhalten, auf die lebensgroße Puppe, die den Angreifer verkörpert und auf Blümels Kollegen, der in einen Sicherheits-Anzug steigt.

Sich zumindest in Gedanken mit dem „Wie?“ und dem „Und dann?“ auseinandergesetzt zu haben, sei die wichtigste Vorbeugung, sagt Uwe Fitzen von der Abteilung Prävention der Kölner Polizei. Auch bei seinen Kollegen im Kalker Polizeipräsidium schauen die acht Kursteilnehmerinnen für eine Stunde vorbei. Fitzen gibt praktische Tipps (siehe Infobox), vor allem will er aber das Bewusstsein der Frauen für Gefahrensituationen schärfen und das Vertrauen in ihr Bauchgefühl stärken.

„Oft ahnen Opfer schon früh, dass etwas nicht stimmt“, sagt Fitzen. „Aber sie vertrauen diesem Gefühl nicht – aus Angst überzureagieren.“ Dabei könne man Gefahren oft früh vermeiden: Ob bei dem Typen in der Bahn, der zu nahe rückt, oder bei einer krawalligen Gruppe auf dem Heimweg: „Entziehen Sie sich der Situation!“ Bedeutet: Den Mut aufbringen, den Sitzplatz oder die Straßenseite ganz einfach zu wechseln. Im Notfall bleibt auf dem Heimweg der Griff zum Handy. Empfehlenswert ist einen Freund anzurufen und das baldige Heimkommen anzukündigen. Das kann Angreifer schon verunsichern. Auch ein Anruf bei der Polizei ist möglich, wenn man glaubt, man werde verfolgt. Das Zauberwort heißt im Bürokraten-Deutsch „Anscheinsgefahr“: Schon das Gefühl, in Not zu sein, genügt für einen Alarm. Ob das Üben an Puppen und Pratzen geholfen hat? „Auf jeden Fall“, sagt Agnes Tedsen. „Ich weiß zum ersten Mal, wie stark ich eigentlich bin – und was ich tun kann, wenn es faustdick kommt.“

Der nächste Frauen-Kurs des PSV ist im März. Es gibt auch Kurse für Männer und Jungen. Infos unter: psv-koeln.de/sportangebote/ju-jutsu

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