Religionspsychologe im Interview„Aktivisten der Letzten Generation sind mit einer Sekte vergleichbar“

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Aktivisten der Gruppierung „Letzte Generation“ haben sich in der Innenstadt teils auf der Straße festgeklebt und blockieren den Verkehr.

Aktivisten der Gruppierung „Letzte Generation“ bei einer ihrer Aktionen – hier in Hannover.

Die Klimaaktivisten blockieren seit mehr als einem Jahr Straßen, bewerfen Gemälde mit Suppe, legen Flughäfen lahm. Der Berliner Religionspsychologe Michael Utsch sieht durchaus Parallelen zu einer Sekte.

Die Verkehrsblockaden und Aktionen der Letzten Generation polarisieren. Viele Mitglieder sind sogar bereit, für ihre Proteste ins Gefängnis zu gehen – weil ihrer Ansicht nach das Ziel, auf den Klimawandel aufmerksam zu machen, die Mittel rechtfertigt. Ist das schon Fanatismus?

Herr Utsch, vor Kurzem habe ich ein Gespräch zwischen zwei weiblichen Mitgliedern der Letzten Generation mitbekommen. „Meine Eltern haben Angst, dass ich in eine Sekte abrutsche“, sagte die Jüngere. Die Antwort: „Das ist Quatsch. Wir glauben nicht an eine Religion, sondern an wissenschaftliche Fakten und die sind wahr.“ Was sagen Sie dazu?

Das ist das typische Schwarz-Weiß-Denken, das auch Sekten aufweisen: Draußen sind die Irrenden und wir drinnen haben die richtigen Erkenntnisse. Aber der dogmatische Glaube an die Wissenschaft ist auch religiös. Wissenschaftliche Fakten sind immer vorläufig, denn niemand weiß, was in 20 oder 30 Jahren erforscht sein wird. Die Letzte Generation beruft sich immer auf das schlimmste Szenario, aber das ist nur eines von mehreren Hochrechnungen. Die Wirklichkeit ist viel widersprüchlicher und es gibt nicht nur eine Wahrheit. Dass die Letzte Generation versucht, die Wirklichkeit zu reduzieren, erinnert mich an eine Sekte.

Sehen Sie weitere Parallelen zu einer Sekte?

Die Aktivisten der Letzten Generation sind von einer regelrechten Endzeit-Angst geprägt, das macht sie mit Sekten vergleichbar. Sie sind so einseitig auf das Thema Klima fixiert und lassen nur bestimmte Studien gelten, die ihre Vorstellung bestätigen. Rechtschaffene und intelligente Menschen lassen sich derart in eine apokalyptische Enge treiben, dass sie ihre Ausbildung abbrechen und Straftaten begehen. So ähnlich läuft es auch bei den Zeugen Jehovas, die angesichts eines angeblich bald drohenden Endgerichts alles andere für überflüssig halten.

Die Aktivisten zahlen durch Haft- und Geldstrafen einen hohen persönlichen Preis. Warum tun sie das?

Die Letzte Generation arbeitet vor allem mit Angst und persönlicher Betroffenheit, und das finde ich fragwürdig. Die Motivation der Aktivisten ist einzig und allein in der Angst vor dem Weltuntergang begründet – auch das erinnert mich an eine Sekte. Dort gibt es – aus christlicher Perspektive gesprochen – nur einen drohenden Richter Gott, aber nicht die andere Seite des barmherzigen Gottes. Dieser Gott möchte uns ein gutes Leben schenken. Aus Dankbarkeit gegenüber unserem Schöpfer verhalten wir uns nachhaltig, mitfühlend, haben das Gemeinwohl im Sinn und gehen mit „Mutter Erde“ verantwortlich um. Dieser positive Ansatz fehlt bei der Letzten Generation völlig, es gibt nur die Drohkulisse. Dabei macht es psychologisch einen großen Unterschied, ob der Mensch durch Angst oder durch Liebe und Dankbarkeit motiviert wird. Die Letzte Generation kennt nur die Angst.

Würden Sie die Letzte Generation als Sekte bezeichnen?

Die Gruppe ist zu vielfältig, um als Sekte zu gelten. Außerdem fehlen zwei wesentliche Elemente: Eine neue religiöse Bewegung braucht einen charismatischen Führer, und den sehe ich bei der Letzten Generation nicht. Zudem fehlt ein Rettungskonzept. Bislang sagen die Aktivisten nur, dass es so nicht weitergehen kann, aber Lösungen für die drängenden gesellschaftspolitischen Fragen bieten sie keine.

Bei der Gruppe machen Menschen von 18 bis 79 Jahren mit, es sind auch viele Eltern dabei. Warum kehren sie dafür ihrem Familienleben den Rücken?

Da ist das schlechte Gewissen der Antreiber, sie wollen ihren Kindern eine bessere Welt hinterlassen. Aus meiner Sicht ist das schlechte Gewissen immer ein schlechter Ratgeber. Studien versuchen zu erklären, warum sich Menschen geschlossenen religiösen Gemeinschaften anschließen. Es macht ja schließlich keinen Spaß, 20 Stunden die Woche ehrenamtlich Flyer zu verteilen. Diese Menschen tun das, weil das ihrem Leben einen Sinn gibt. Sie glauben, dass sie die Welt mit der Letzten Generation retten können, das ist enorm sinnstiftend. Gerade für Menschen, die arbeitslos sind oder keine Perspektive haben, sind solche Gruppen attraktiv.

Nach eigenen Angaben hat die Letzte Generation im letzten Jahr sehr viel Zulauf erhalten. Was genau macht die Gruppe so attraktiv?

Ich denke, das liegt in der gesellschaftlichen Unzufriedenheit begründet. Die Widersprüchlichkeiten in unserer Welt haben zugenommen, und es gehört viel innere Stabilität dazu, das auszuhalten. Die Mitte wird immer dünner, und die radikalen Ränder erhalten Zulauf. Das ist einseitig, schief und dient nicht dem Gemeinwohl.

Glauben Sie, dass die Gruppe sich weiter radikalisieren wird und die Aktivisten bereit sind, den höchsten Preis zu bezahlen?

Leider zeigt ein Blick in die Geschichte, dass radikale Gruppen auch Menschen anziehen, die alles auf eine Karte setzen. Ohne eine stärkere Auswahl der Mitglieder ist leider zu befürchten, dass sich in zugespitzten Situationen eine Eigendynamik entwickelt, die aus dem Ruder laufen kann.


Was meinen Sie? Sind die Klimaaktivisten auf dem Weg in die Radikalisierung? Bitte schreiben Sie uns: Dialog@kr-redaktion.de oder an Kölnische Rundschau, Leserbriefe, Postfach 102145, 50461 Köln.


ZAHL

2525 Strafanzeigen im Zusammenhang mit Aktionen der Letzten Generation hat die Berliner Polizei in den vergangenen zwölf Monaten gefertigt. Bei knapp 50 Prozent der Fälle handele es sich um Nötigung im Straßenverkehr, bei 25 Prozent um Hausfriedensbrüche und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, teilte die Polizei weiter mit. Zuvor war sogar von 2700 Strafanzeigen sowie 756 Tatverdächtigen die Rede gewesen. (dpa)

56 Prozent der Jugendlichen in Deutschland überlegen, angesichts des Zustands der Welt selbst keine Kinder zu bekommen. In Österreich sind es 55 Prozent der 19- bis 26-Jährigen, in der Schweiz rund 45 Prozent. Das ergab eine repräsentative Umfrage des Instituts für Jugendkulturforschung in Wien und des Marktforschers T-Factory unter 2500 Jugendlichen. (dpa)


Klimaschützer legen nach Razzia Beschwerden ein

Nach der Großrazzia gegen Mitglieder der Klimaschutz-Gruppe Letzte Generation von Mitte Dezember haben mehrere Beschuldigte Beschwerden gegen die Durchsuchungen eingelegt. Darüber müsse nun von der Staatsschutzkammer des Landgerichts Potsdam entschieden werden, so Cyrill Klement, Sprecher der Staatsanwaltschaft Neuruppin. Polizei und Staatsanwaltschaft hatten elf Wohnungen von Mitgliedern der Gruppe in sechs Bundesländern durchsucht. Grund waren mehrere Attacken von Aktivisten auf Anlagen der Raffinerie PCK Schwedt. Dabei sei unter anderem die Ölzufuhr unterbrochen worden.

Die Staatsanwaltschaft Neuruppin hat mittlerweile auch die Ermittlungen gegen eine Frau und einen Mann übernommen, die am 23. Oktober ein Gemälde von Claude Monet im Potsdamer Museum Barberini attackiert hatten. Die Letzte Generation bekannte sich zu der Tat und sprach von einer Attacke mit Kartoffelbrei. Sie forderte von der Politik wirksamere Maßnahmen gegen den Klimawandel. (dpa)