Rundschau-Debatte des TagesKommt die Rettung für die Pflege aus Brasilien?

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Eine Krankenschwester versorgt einen schwer an Corona erkrankten Patienten einer Intensivstation und hält dabei die Hand des Mannes.

Der Pflegenotstand ist in Deutschland ein großes Problem.

In Deutschland arbeiten immer mehr ausländische Pflegekräfte. Und die Bundesregierung will noch viel mehr von ihnen anwerben. Den riesigen Personalmangel werden sie aber wohl nicht lösen können.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Außenministerin Annalena Baerbock sehen gute Chancen, die Anwerbung qualifizierter Pflegekräfte aus Brasilien weiter anzukurbeln. „Brasilianische Pflegekräfte und kolumbianische Elektriker finden in Deutschland bereits offene Arme. Diese Partnerschaft wollen wir ausbauen“, sagte Baerbock über den gemeinsamen Besuch in der Hauptstadt Brasilia, der gestern begann. Heil erklärte, man wolle „in Brasilien für Deutschland als attraktiven Standort mit guten Arbeits- und Lebensbedingungen werben“.

Baerbock (Grüne) und Heil (SPD) waren am späten Sonntagabend (Ortszeit) nach einem mehr als elfstündigen und knapp 10.000 Kilometer langen Flug in dem mit etwa 215 Millionen Menschen einwohnerstärksten Land Lateinamerikas eingetroffen. Brasilien ist das einzige Land in der Region, mit dem Deutschland seit 2008 durch eine strategische Partnerschaft verbunden ist. Es ist zudem der wichtigste Handelspartner Deutschlands in Südamerika.

Ziel: „Win-win-win-Situation“

Besonders in qualifizierten Pflegeberufen sei der Bedarf an Fachkräften in Deutschland groß, während es in Brasilien einen Überhang an gut ausgebildeten Pflegekräften gebe, sagte Heil vor der Abreise. „Daraus können wir eine klassische Win-win-win-Situation schaffen, bei der alle profitieren.“ Deutschland bekomme so neue, qualifizierte Fachkräfte. Auch Brasilien profitiere, „etwa indem wir uns in der Ausbildung vor Ort engagieren“. Die Arbeitslosenquote bei Pflegerinnen und Pflegern liege in Brasilien bei zehn Prozent.

Der Arbeitsminister sprach am Montag bei einem Termin in einer Ausbildungsstätte für Pflegeberufe der Katholischen Universität Brasilia (UCB), einem Treffen mit seinem Kollegen Luis Marinho und einem Besuch bei der brasilianischen Pflegekammer Cofen über den Ausbau der Anwerbung von Pflegekräften. Nach Angaben Heils arbeiten derzeit bereits bis zu 200 brasilianische Pflegekräfte in Deutschland. Die UCB ist die zweitgrößte Hochschule in der Hauptstadt. In einem vierjährigen Studiengang werden Pflegekräfte mit Bachelor-Abschluss ausgebildet.

370 brasilianische Pflege-Bewerber

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat mit der Pflegekammer Cofen im Juni 2022 eine Absprache zur Vermittlung von Pflegefachkräften unterzeichnet. Die Kammer hat rund 2,5 Millionen Mitglieder. In dem Abkommen stehen Regeln zur Bewerberauswahl, zum Vermittlungsprozess, zum Spracherwerb und zur Anerkennung beruflicher Qualifikationen. Für Gesundheitsberufe bestehen bei der Anerkennung in Deutschland laut Bundesregierung gute Aussichten. In der Regel seien aber Anpassungsqualifizierungen nötig. Für eine vollständige Anerkennung dauerten derartige Maßnahmen oft drei bis acht Monate.

Die BA rekrutiert seit 2018 brasilianische Fachkräfte für den deutschen Arbeitsmarkt. Derzeit betreut sie nach eigenen Angaben 374 Bewerber aus Pflegeberufen, 43 aus technischen und Handwerksberufen sowie 42 aus Ingenieur- und IT-Berufen. Laut Heil hält die BA die Anwerbung von bis zu 700 Pflegekräften pro Jahr für möglich.

Verstärkte Suche im Ausland

Insgesamt setzt die Pflegebranche zur Abmilderung des Fachkräftemangels zunehmend auf Arbeitskräfte aus dem Ausland, auch wenn die Sprachbarriere sowie die Berufsanerkennung zum Teil große Hürden darstellen. 2022 gab es nach den Daten der BA rund 1,68 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in den Pflegeberufen. Darunter waren insgesamt 244.000 ausländische Kräfte. Ihr Anteil hat sich von acht Prozent 2017 auf 14 Prozent 2022 nahezu verdoppelt.

Die meisten der ausländischen Pflegekräfte kommen aus der EU. Für Staaten außerhalb der EU gibt es vergleichsweise hohe Hürden für die Arbeitsaufnahme durch die Qualifikationsanforderungen und den Nachweis der Gleichwertigkeit von Hochschulabschlüssen und beruflichen Abschlüssen. Für die Staaten Albanien, Bosnien-Herzegowina, den Kosovo, die Republik Nordmazedonien, Montenegro und Serbien wurden diese Hürden im Rahmen der Westbalkanregelung bis Ende 2023 erheblich gesenkt.

Konkret hat sich die Zahl der im Zuge der EU-Freizügigkeit in Deutschland beschäftigten Pflegekräfte in den vergangenen fünf Jahren um 25.000 auf 91.000 erhöht. Sie kommen vor allem aus Polen, Bosnien und Herzegowina, der Türkei, Rumänien sowie Kroatien. Auch die Zahl der Geflüchteten, die in der Pflege tätig sind, ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Im Juni 2022 waren 20.000 Pflegekräfte aus den acht zuzugsstärksten Asylherkunftsländern in der Pflege tätig, darunter aus Syrien und Afghanistan.

Auch die Zahl von Ukrainerinnen und Ukrainern hat sich erhöht: Vor Kriegsbeginn im Februar 2022 waren knapp 5000 von ihnen in Pflegeberufen tätig, im vergangenen September waren es knapp 7000.

Zugleich werden verstärkt Pflegekräfte aus dem außereuropäischen Ausland angeworben, beispielsweise im Rahmen des Programms „Triple Win“, das die BA und die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) 2013 aufgelegt haben. Neben bereits ausgebildeten Pflegefachkräften aus den Philippinen, Tunesien, Indonesien, Indien und Jordanien sollen auch Menschen aus Vietnam mit Erfahrungen in der Pflege für eine dreijährige Pflegeausbildung gewonnen werden. Seit 2013, dem Jahr des Projektbeginns, hat sich die Zahl der Pflegefachkräfte mit einer der erstgenannten Staatsangehörigkeiten von knapp 3000 auf mittlerweile über 19.000 erhöht. (dpa/mit kna)

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