50 Jahre nach dem „Bloody Sunday“Blut floss auf der Edmund-Pettus-Brücke

Martin Luther King Jr. (David Oyelowo, M) und seine Mitstreiter - eine Szene des Kinofilms „Selma“.
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Der Wahlkämpfer Barack Obama hatte noch jede Menge Yes-We-Can-Illusionen und keine grauen Haare, als er vor acht Jahren an jener hässlichen Brücke stand, die sich in Selma über den träge dahin fließenden Alabama River spannt, und sich mit einem Kloß im Hals vor der Geschichte verneigte. „Ich bin hier, weil ihr alle Euch geopfert habt für mich“, sagte der Mann, der im Jahr darauf als erster Afro-Amerikaner ins Weiße Haus einziehen sollte. „Ich stehe auf den Schultern von Giganten.“
Giganten, das waren für Obama jene 600 Männer, Frauen, Rentner und Kinder um den Bürgerrechtler Dr. Martin Luther King, die am 7. März 1965 an der Edmund-Pettus-Brücke friedlich gegen die Schikanierung von Schwarzen an der Wahlurne durch den Bundesstaat Alabama protestierten. Die Polizei entfesselte eine Orgie der Gewalt, bezwingend nachgestellt im aktuellen Hollywood-Film „Selma“.
Weil das Fernsehen die Bilder vom „Blutsonntag“ in jedes Wohnzimmer brachte und Amerika in ungeahnte Wallung geriet, machte Präsident Lyndon B. Johnson dem Kongress Beine. Fünf Monate später bekam das Herzstück der Bürgerrechtsbewegung, der „Voting Rights Act“, Gesetzeskraft. Wahlrecht für alle!
Stadt tritt auf der Stelle
50 Jahre danach wird Barack Obama am heutigen Samstag wieder auf Selma blicken und an der Edmund-Pettus-Brücke vor Tausenden Gästen aus dem ganzen Land mit Kloß im Hals der „Giganten“ von damals gedenken. Es ist gewissermaßen der Geburtsort seiner Präsidentschaft. „Ohne die Brücke von Selma“, sagt John Lewis, einer, dem die Polizei damals fast den Schädel zertrümmert hätte und der heute Kongress-Abgeordneter der Demokraten ist, „wäre Obama nie so weit gekommen.“
Nur Selma tritt noch immer auf der Stelle. Wer die Broad Street hinunterläuft, vorbei an verwaisten Ladenlokalen, spürt Stillstand und Verfall. Gay Talese sagt, die Zeit sei wie eingefroren hier. Als junger Berichterstatter der New York Times war er am „Bloody Sunday“ vor Ort. Als Literat der Reporter-Zunft kehrte er jetzt zurück. Um festzustellen, was die Festredner heute ausblenden werden: Selma ist trotz aller Historie ein besiegter Ort geblieben.
Selma liegt im ärmsten Bezirk Alabamas. 40 Prozent der Bewohner leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit liegt mit über zehn Prozent doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Fünf Mal häufiger als anderswo im Bundesstaat hat es die Polizei mit Gewaltverbrechen zu tun. „The Birmingham News“, das Lokalblatt aus der Nachbarstadt, nannte Selma abschätzig „Alabamas Dritte Welt“.Ökonomisch leidet der Ort noch immer unter der Schließung des Luftwaffen-Stützpunkts Craig, der bis Ende der 70er Jahre mit 2500 Beschäftigten jährlich fünf Millionen Dollar in den Wirtschaftskreislauf pumpte. Mit dem Militär gingen die Menschen. Die Bevölkerung nahm von 28 500 auf heute 19 000 ab. Über 80 Prozent sind Schwarze.
Auf den ersten schwarzen Bürgermeister, James Perkins, musste Selma gleichwohl 35 Jahre warten. Zu mächtig waren die alten Netzwerke der Weißen. Erst 1989 schwor Alabamas erster schwarzer Bundesrichter, U. W. Clemon, die ersten drei schwarzen Stadt-Manager ins Amt ein. Ein Jahr später zogen in Selma nach fünftägigem Streik und Einsatz der Nationalgarde 600 weiße Eltern ihre Kinder aus der örtlichen High School ab. Heute ist die Schule zu 99 Prozent schwarz und die Abbrecherquote so hoch wie nirgends sonst in Alabama.
Rassentrennung funktioniert auch ohne Gesetz. Wie der Rassismus in den Köpfen. Es ist kein Zufall, dass die legendäre Brücke nicht längst umbenannt ist. Edmund Pettus war ein Südstaaten-General und führender Kopf des Ku-Klux-Klan - jenes auf Rassenhass gründenden Geheimbunds, der für Lynchmorde und Brandschatzungen verantwortlich war. Pettus' früherem Mitstreiter General Nathan Bedford Forrest, später ebenfalls im Führungszirkel der Kapuzenmänner aktiv, wollen manche in Selma noch heute ein Denkmal bauen.
„Die Pläne gibt es wirklich“, sagt Sam Walker und verzieht den beinahe zahnlosen Mund. Sam Walker war elf Jahre alt, als Selmas Sheriff Jim Clark am 7. September 1965 auf Geheiß von Gouverneur George Wallace mit seinen Schlägern in Uniform das Tor zur Hölle öffnete.
Aus Boykotten wurde organisierter Widerstand
Heute verwaltet Clark in einem kleinen, schäbigen Museum nahe der Brücke den Nachlass der Demonstranten. James: „Was hier geschah, hat unsere Welt für immer verändert.“
Aus vereinzelten Boykotten erwuchs 1965 organisierter Aufstand. Mit Demonstrationen, Prozessen und Blockaden suchten lokale schwarze Aktivisten nach überregionaler Aufmerksamkeit. Durch Martin Luther King, Prediger in Alabamas Hauptstadt Montgomery, erhielt die Bewegung prominente Unterstützung. Im benachbarten Marion führte Polizei-Übergriffigkeit am 18. Februar zum Tod von Jimmie Lee Jackson. Der schwarze Teenager wollte seinen von blindwütigen State-Troopern misshandelten Großvater beschützen, als ihn zwei Polizeikugeln in den Bauch trafen.
„ML“ King lenkte Wut und Resignation in Bahnen. Sein Credo: Wer die institutionelle Willkür auflösen, im geschilderten Fall den Rauswurf des verantwortlichen Polizeichefs betreiben will, der muss jenes Grundrecht ausüben dürfen, das den Schwarzen auch 100 Jahre nach Aufhebung der Sklaverei beharrlich verweigert wurde: das Wahlrecht. Anfang der 60er Jahre war nicht einmal jeder dritte Schwarze im Süden als Wähler registriert, in Selma nur jeder hundertste.
Wer als Schwarzer seine Stimme abgeben wollte, musste einen unverschämten Test bestehen. „Wie viele Wattebäusche passen in ein Einmachglas?“, lautete einer der Standardfragen. „Wie viele Luftblasen kommen aus einem Stück Seife?“ eine andere.
Am 7. September 1965 suchen King und seine Mitstreiter die Konfrontation. Mit einem Protestmarsch auf Alabamas Hauptstadt Montgomery wollen sie die Einlösung des in der „Bill of Rights“ niedergelegten Versprechens von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit durchsetzen. Sheriff Clark blockiert die Brücke in Selma mit berittenen Nationalgardisten. Soldaten feuern Tränengasgranaten, Polizisten prügeln wahllos Frauen und Kinder nieder. Der Fernsehsender ABC unterbricht sein Programm und zeigt Bilder wie aus einem Krieg.
Marsch auf Montgomery
Am nächsten Tag machen sich in den USA Hunderte auf den Weg nach Alabama, um sich solidarisch zu zeigen. Gouverneur Wallace verlangt Beistand von Washington gegen die „Aufrührer“. Und blitzt ab. Am 15. März kündigt Präsident Lyndon B. Johnson die Wahlrechtsreform an. In seiner Rede, die 70 Millionen Amerikaner am Fernseher verfolgen, macht er sich Kings Slogan zu eigen: „We shall overcome.“ Am 21. März marschieren Hunderte die 80 Kilometer lange Strecke nach Montgomery. Vor dem Parlament an der Dexter Avenue hören 25 000 zu, als King den Durchbruch verkündet: „Die Rassentrennung liegt auf dem Sterbebett.“
Nur richtig tot ist sie immer noch nicht. Auch wenn den noch lebenden Teilnehmern der historischen Märsche bald die „Congressional Gold Medal“ überreicht wird. Die höchste Auszeichnung, die das Parlament zu verleihen hat, reicht Terri Sewell nicht. Alabamas erste schwarze Abgeordnete in Washington, zwei Wochen vor den Unruhen in Selma geboren, sieht die Errungenschaften von damals bedroht. Der Oberste Gerichtshof hat vor einiger Zeit die Rassismus-Schutzklausel aus dem Wahlrecht entfernt. „Wähler aus gesellschaftlichen Minderheiten zu diskriminieren, kann damit wieder hoffähig werden“, fürchtet Sewell. „Die alten Schlachten sind wieder aktuell. Wir müssen Selma endlich richtig leben.“