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Alleskönner grüner Tee?100 Studien befassen sich mit Wirkung

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Grüner Tee kann viel.

Manchmal sehen Medikamente ganz alltäglich aus. Sanft wiegt sich der jadegrün, bisweilen auch goldgelb funkelnde Spiegel eines grünen Tees in der Tasse. Das Getränk entfaltet ein Aroma, das je nach Sorte und Zubereitung von süßlich-blumig über frisch-grasig bis herb-rauchig reicht. Andere erinnert es eher an Heu oder Fisch. Dafür aber erweckt grüner Tee Körper und Geist zu neuem Leben, so jedenfalls steht es in alten Aufzeichnungen.

Diese berichten, dass der chinesische Kaiser Shen-Nung, der in seiner Heimat auch als Vater der Heilkunde verehrt wird, die Kraft des grünen Tees vor mehr als 4000 Jahren erkannte, als er sich von Geschäften ermattet im Garten seines Palastes mit einer Tasse Wasser niederließ. Der Wind wehte ein Blatt des Teestrauchs in seine Tasse und verlieh dem Wasser eine intensive grüne Färbung. Neugierig probierte der Herrscher das Getränk und fühlte sich schon wenig später wunderbar erfrischt. Die Geburt der Legende vom Gesundheitstrunk.

Der Tee soll die Sterblichkeitsrate senken

Nicht nur am Geschmack scheiden sich die Geister. Die Industrie bewirbt grünen Tee erfolgreich als Getränk, das Wohlbefinden steigern, gegen Stress und Alltagswehwehchen sowie gegen ernsthafte Erkrankungen wirken soll. Sie beruft sich dabei auf die Wissenschaft. Tatsächlich kommen Untersuchungen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass der Konsum von grünem Tee die Sterblichkeitsrate senkt. Beeindruckende Ergebnisse lieferte etwa die größte epidemiologische Studie mit mehr als 40 000 Japanern. Die 2006 veröffentlichte Langzeituntersuchung ergab, dass bei Menschen, die ihr Leben lang mindestens fünf Tassen grünen Tee am Tag tranken, die Sterberate - gemessen in einem bestimmten Zeitraum - um insgesamt 16 Prozent niedriger war als bei jenen, die nur eine Tasse tranken. Die Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen sank gar um 26 Prozent. "Unklar ist, welchen Einfluss Ernährung und Lebensstil haben. Deshalb ist fraglich, ob die ausschließlich an Asiaten durchgeführten Untersuchungen auf Europäer übertragbar sind", warnt Susann Klaus vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam.

Was ist also dran an den Versprechen? Diese Frage stellten sich kürzlich auch Forscher beim vierten Weltkongress über Tee und Gesundheit in Berlin. Im Brennpunkt des Interesses steht ein Stoff, der in den getrockneten Blättern des grünen Tees besonders reich enthalten ist: Epigallocatechin-3-Gallat, kurz EGCG. Der Naturstoff hat sich vor allem in Experimenten mit Zellkulturen als "heißer Kandidat" herauskristallisiert. Ihm werden entzündungshemmende Eigenschaften zugesprochen, er soll zellschädigende Sauerstoffmoleküle abfangen, die etwa beim Rauchen entstehen, Viren und Bakterien abtöten, Nervenzellen vor dem Verfall schützen und Tumoren den Garaus machen.

Vielfältige Wirkungsbereiche

Mehr als 100 klinische Studien untersuchen zurzeit die Wirkung von EGCG. Es gehe um Erkrankungen des Nervensystems, Darm-, Brust- und Lungenkrebs, Übergewicht und Herz-Kreislauf-Leiden, berichtet Neurologie-Professor Friedemann Paul von der Berliner Charité. Doch nur selten könnten die Studien für Transparenz sorgen, denn sie seien schwer vergleichbar: "Die eingesetzten Präparate sind nicht standardisiert. Es gibt Teeaufgüsse und Kapseln, die unterschiedliche Konzentrationen von EGCG enthalten und zum Teil mit Zusatzstoffen wie Koffein angereichert sind. Das erschwert eine Bewertung der Ergebnisse." So gebe es keine klaren Aussagen, wie viel von der Substanz gegeben werden muss, um eine heilende Wirkung zu erzielen.

Mit vier klinischen Studien, die die Wirkung von EGCG zur Behandlung von Multipler Sklerose, Alzheimer und krankhaftem Muskelabbau untersuchen, gehen die Berliner Forscher der Sache nun auf den Grund. Dabei werden die Patienten per Zufallsauswahl in zwei Gruppen aufgeteilt. Alle Teilnehmer nehmen täglich eine Kapsel ein. Doch nur eine Gruppe erhält damit den Wirkstoff EGCG. Die anderen Kapseln sind ohne Wirkstoff. Weder der Arzt noch die Patienten wissen, zu welcher Gruppe jeder Proband gehört. Erste Ergebnissen der aufwendigen Studie sollen frühestens Ende des Jahres vorliegen.

Den Anstoß zu den aktuellen Untersuchungen hatten ermutigende Ergebnisse von Forschern am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin gegeben. 2006 hatten Erich Wanker und Kollegen in Laborversuchen die schützende Wirkung von EGCG bei Chorea Huntington entdeckt. Die Wissenschaftler hatten die Substanz mit Nervenzellen in Kontakt gebracht, die aufgrund eines genetischen Defekts ein fehlerhaftes Protein, das sogenannte Huntingtin, bilden und schließlich an dem giftigen Eiweißmüll ersticken. Beim Menschen führt das zu einer tödlich verlaufenden Krankheit. Im Reagenzglas jedoch konnte EGCG die Entartung der Nervenzellen aufhalten, indem es früh die Verklumpung des falsch gefalteten Proteins bremste. Auch im Tiermodell zeigte die Substanz Wirkung.

Die überraschenden Befunde lösten eine Lawine neuer Forschungsarbeiten aus. Schlummerten in dem Naturstoff weitere verborgene Talente? "Die Substanz könnte Grundlage für die Entwicklung einer medikamentösen Therapie gegen Chorea Huntington und ähnliche Krankheiten sein. Denn die Ursachen der Huntington-, Alzheimer- und Parkinsonerkrankung sind vergleichbar: ein falsch gefaltetes Protein", gab sich Wanker damals überzeugt.

Schon wenig später konnte seine Arbeitsgruppe nachweisen, dass EGCG tatsächlich die Protein-Fehlfaltungsprozesse auch bei Parkinson und Alzheimer beeinflusst. Bei Mäusen zeigte der Naturstoff positive Wirkung, indem er die für Alzheimer typische Bildung von krankhaften Eiweißklumpen in den Nervenzellen verhinderte.

EGCG kann Chemotherapie behindern

Nicht immer entpuppt sich der Wirkstoff aus dem grünen Tee als Retter in der Not. Inzwischen haben US-Forscher Hinweise darauf gefunden, dass EGCG die Chemotherapie behindert, wenn dabei der Antikörper Bortezumib zum Einsatz kommt.

Solange die Effekte des grünen Tees nicht besser verstanden sind, rät der Neurologe Friedmann Paul deshalb auch von einer Selbstmedikation mit Grüntee-Extrakten ab, wie sie beispielsweise als Polyphenon E beworben werden. "Damit wird nur Kasse gemacht, und es kann zu erheblichen Nebenwirkungen kommen", warnt der Experte. Dagegen könnten ein bis drei Liter grüner Tee pro Tag nicht schaden.