EmpathieMitfühlende Menschen leben gesünder

Anlass für Mitgefühl: Ein Obdachloser schläft auf einer Bank. Studien zufolge ist Empathie, die wir für Fremde empfinden, weniger stark ausgeprägt.
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Da ist er wieder. Schlurfend bahnt er sich seinen Weg entlang des Bahngleises am Kölner Hauptbahnhof, wie jeden Tag. In der Hand hält er einen alten Pappbecher. Sein Gesicht ist dreckig, ebenso seine abgenutzte Jeans und seine schwarze Lederjacke. Der braune Bart ist verfilzt. Schwer zu sagen, wie alt der Mann ist. Höchstens 30, möchte man meinen, aber das kann täuschen. Mit leiser und brüchiger Stimme bittet er die Wartenden um einen Euro. Nur die wenigsten lassen ein paar Münzen in den Becher fallen. Viele schauen weg, manche murmeln ein "Tut mir leid" und schütteln den Kopf. Die Szene wiederholt sich fast täglich. Der Becher des Mannes füllt sich dabei allerdings selten.
Haben die Menschen zu wenig Mitgefühl? "Das glaube ich nicht", sagt Werner Bartens. Der Mediziner und Autor hat für sein Buch "Empathie - Die Macht des Mitgefühls" zahlreiche Studien zum Thema ausgewertet. "Der Mensch ist von Natur aus in der Lage, Mitgefühl zu empfinden. Im Grunde ist es eine Art Instinkt." Man müsse beispielsweise nur einmal Kinder beobachten. Oft fingen auch sie an zu weinen, wenn ein anderes, ihnen vollkommen fremdes Kind weine.
"Empathie ist ein ureigener menschlicher Trieb. Früher waren Menschen in gewisser Weise sogar darauf angewiesen, weil sie nur in der Gruppe überleben konnten", so der Mediziner.
Stumpfen wir mit dem Grauen ab?
Doch drohen Menschen nicht gerade heute durch die Flut von schrecklichen Bildern abzustumpfen? Flüchtlinge auf Rettungsbooten, Kriegstote in Syrien, Opfer barbarischer Verbrechen in Nigeria - fast schon in Echtzeit werden Grausamkeiten auf die Bildschirme von Smartphones und Fernsehgeräten übertragen. Natürlich gebe es Menschen, die sich von der Permanenz solcher Bilder überfordert fühlten, sagt Werner Bartens. An der grundsätzlichen Fähigkeit zur Empathie ändere das jedoch nichts. Wissenschaftlich unstrittig ist jedoch: Die Fähigkeit, am Gemütszustand anderer teilzuhaben, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark ausgeprägt. Das habe mit Erfahrungen und Erziehung zu tun, erklärt Bartens. "Wenn Sie als Kind und Jugendlicher ständig hören, dass beispielsweise Obdachlose faul seien, werden Sie später vermutlich eher kein Mitgefühl haben, wenn Sie auf eine Person treffen, die sich in einer solchen Notlage befindet." Mit der Zeit lege sich dann im Grunde ein Filter über das Ur-Gefühl. Bestimmte Dinge dringen dann nicht mehr bis dorthin durch.
Was uns näher liegt, berührt mehr
Es sind verschiedene Erfahrungen, die eine Voreingenommenheit gegenüber bestimmten Personen oder Situationen bewirken können. "Je dicker diese Schutzmauer, umso schwieriger ist es, Mitgefühl zu zeigen", sagt Bartens. Das bedeute natürlich nicht, dass diejenigen, die einem Bettler kein Geld geben, grundsätzlich hartherzig sind. "Es kommt immer darauf an, wie nah die Menschen dem Einzelnen gehen." So sei etwa das Spendenaufkommen nach dem Tsunami im Indischen Ozean 2004 um ein Vielfaches höher gewesen als für das Erdbeben in Pakistan ein Jahr später, das eine ähnliche Zerstörung bewirkte. "Pakistan war in vielen Köpfen als Land mit korruptem Regime und einer gewissen Nähe zu den Taliban verankert. Bei einem solchen Filter sind die Menschen gehemmt, Geld zu spenden", sagt Bartens. Der Mediziner ist davon überzeugt, dass sich die Fähigkeit zu Empathie trainieren lässt. Gestützt wird seine Annahme durch diverse wissenschaftliche Untersuchungen. So haben Forscher aus den USA und Kanada jüngst zeigen können, dass Stress negative Auswirkungen auf das Mitgefühl hat. Wissenschaftler der McGill-University im kanadischen Montreal haben untersucht, wie Menschen auf Schmerzen reagieren, die ihnen oder anderen zugefügt werden. Die Probanden waren dabei entweder allein, mit Freunden oder Fremden zusammen. Waren die Testpersonen mit Fremden im Raum, zeigten sie weniger Mitgefühl, wenn die Hand des Anderen in eiskaltes Wasser getaucht wurde. Aber auch, wenn ihnen selbst Schmerzreize zugefügt wurden, ließen sie sich das Unbekannten gegenüber weniger anmerken. Waren hingegen Bekannte betroffen, fühlten die Probanden intensiver mit. Auch ihre eigenen Schmerzen ließen sie dann deutlicher erkennen.
Bartens, Werner: "Empathie. Die Macht des Mitgefühls. Weshalb einfühlsame Menschen gesund und glücklich sind", Droemer, 320 S.,19,99 Euro
Stress verhindert das Mitempfinden
Der Grund dafür, dass Mitgefühl zwischen Menschen, die sich nicht kennen, seltener ist, sei Stress, erklärt Jeffrey Mogil, der die Arbeitsgruppe leitete. Insbesondere sozialer Stress, ausgelöst durch die Nähe Fremder, verhindere das Mitempfinden. "So ist es auch im Job", sagt Werner Bartens. "Fühle ich mich im Beruf nicht genügend wertgeschätzt oder sogar gemobbt, bedeutet das für mich Stress. Auch dann fällt es mir schwerer, Empathie für Kollegen zu entwickeln." Hilfreich sei zudem, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen, so Bartens. Auch das könne man bei Kindern gut beobachten. Wenn Eltern beispielsweise zu ihrem Kind sagten: "Was glaubst du, wie sich das Kind jetzt fühlt, das du geärgert hast?", wirke sich das positiv auf das Mitgefühl aus. Und das nicht nur bei Kindern: Im vergangenen Jahr haben britische Psychologen von der Universität Surrey herausgefunden, dass selbst Narzissten - also Menschen, die extrem ich-bezogen sind - in der Lage sind, Mitgefühl zu zeigen. In dem Experiment mussten sich weibliche Teilnehmer ein zehnminütiges Video anschauen, in dem eine Frau körperlich misshandelt wurde. Die Frauen, die dazu aufgefordert wurden, sich in die Lage des Opfers hineinzuversetzen, zeigten Anzeichen von Mitgefühl. Jene Probandinnen aber, die die Aufforderung nicht erhielten, blieben regungslos. Gemessen wurden die Reaktionen unter anderem anhand der Herzfrequenz.
Immer mehr Studien deuten zudem darauf hin, dass Mitgefühl nicht nur für denjenigen, dem es zuteil wird, positive Auswirkungen hat. Es nutzt auch dem, der es empfindet. Gleich mehrere Untersuchungen haben sich damit beschäftigt, welchen Einfluss positive Gefühle wie Zufriedenheit, Verständnis und Mitgefühl auf die Gesundheit haben. So ermittelten Forscher, dass zufriedene, empathische Menschen im Schnitt siebeneinhalb bis zehn Jahre älter werden als unglückliche Zeitgenossen. Unter anderem werde durch Empathie das Immunsystem gestärkt und das Herzinfarktrisiko gesenkt. Jede Spende für einen Obdachlosen ist also auch eine Investition in die eigene Gesundheit.