Interview mit PsychologeDiese Rolle spielt der Kopf beim Abnehmen

Fünf Kilo Übergewicht sind meist gut zu ertragen und noch relativ leicht zu kaschieren. Problematischer sind da schon acht bis zehn Kilo.
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Dr. Markus Jensch ist Diplom-Psychologe aus Köln. Seit 30 Jahren beschäftigt er sich intensiv mit Essstörungen. Im Gespräch mit
Lioba Lepping äußerte er sich über die Psychologie beim Abnehmen.
Warum verderben wir uns selber oft den Appetit, weil wir glauben, unbedingt noch fünf Kilo abnehmen zu müssen?
Wenn uns zum Beispiel eine für uns wichtige Person gesagt hat, dass das Kleid sehr eng sitzt oder dass die "Röllchen" über dem Gürtel unvorteilhaft hervortreten, tritt die verletzte Eitelkeit ins Visier. Oder beim Umarmen sagt ein guter Freund: "Hast du zugenommen?" Fünf Kilo machen eine Kleidergröße aus und uns ist ja beim Blick in den Spiegel schon bewusst, dass die eigenen Klamotten spack sitzen. Schleichend ist der halbe Kleiderschrank voller unpassender Kleider. Die Fünf-Kilo-Grenze ist aber meist noch gut zu ertragen und auch noch relativ leicht zu kaschieren. Problematischer sind die acht bis zehn Kilo, die dann am Ego kratzen. Das Gesicht wird dicker, die Pfunde werden zur Last beim Treppensteigen, beim Bücken oder bei der körperlichen Arbeit. Als Psychologe interessieren mich am meisten die verletzte Eitelkeit und die Befürchtung, nicht mehr attraktiv zu wirken. Das kann dazu führen, dass man sich zurückzieht und unsicher wird.
Viele Menschen scheitern oft an einem zu hohen Anspruch an sich selbst?
Ein hoher Anspruch an sich selbst hat sehr oft mit einem Gefühl von Unterlegenheit zu tun. Ich meine damit, dass man glaubt, nicht gut genug zu sein, nicht auszureichen. Dieses Gefühl ist ja den meisten Menschen nicht fremd. Wenn man aber meint, sich durch besondere Leistungen hervortun zu müssen, fängt man an, Druck auf sich selbst auszuüben. Wer es schafft, den Druck in positive Leistung umzusetzen, der wird kaum Probleme mit dem Naschen haben. Wenn die Leistungskompensation aber nicht gelingt, dann können wir zum Opfer von Nasch-Attacken werden. Dann hat die Süßigkeit eine Beruhigungsfunktion. Unzufriedenheit und Druck machen gierig nach Süßigkeiten, denn sie bringen sofort den Serotoninspiegel nach oben.
Hinter dem Wunsch zu essen stecken also oft ganz andere Motive?
Meist steckt ein Frust dahinter, der die unterschiedlichsten Auslöser haben kann. Ich nenne hier nur Liebeskummer, Leistungsversagen, körperliche Minderwertigkeitsgefühle sowie Gefühle von Ohnmacht und Angst - das sind nach meiner Erfahrung die häufigsten Anlässe. Im Grunde steckt hinter jeder Essstörung eine eigene Psychodynamik. Wer mit einer gut durchführbaren Anleitung zum Abnehmen nicht zurecht kommt, kann ein Psycho-Coaching in Anspruch nehmen. So kann man herausfinden, inwieweit das Essen eine Frust-Kompensation ist.
Geht Abnehmen also nur mit Therapie - statt mit Diät?
Ich habe festgestellt, dass die meisten Essgestörten übervorsichtige Menschen sind. Sie sind sehr harmoniebedürftig, streben nach Ausgleich und scheuen sich vor Konflikten. Lieber machen sie die Faust in der Tasche und eine gute Miene, obwohl sie voller Aggressionen stecken. Im Coaching oder auch in einer Psychotherapie geht es dann um einen neuen Umgang mit Frustrationen. Sich streiten lernen statt heimlich zu naschen - darum geht es dann. Sich dem aggressiven Verhalten anderer mutig entgegenzustellen - statt auszuweichen und freundlich zu tun.
Es geht also mehr darum, seine Verhaltensmuster zu ändern als seine Essgewohnheiten?
Genau. Am meisten gefährdet sind die Zauderer: Menschen, die faule Kompromisse machen, die klein beigeben, die Ja sagen, obwohl sie Nein sagen wollen, die unangenehme Entscheidungen lieber aufschieben - die greifen gerne aus Verlegenheit zur kleinen Zwischenmahlzeit. Und wenn das zur Gewohnheit wird, ist das Zunehmen programmiert.
Dann wäre ja die ganze Kalorienzählerei überflüssig oder sogar kontraproduktiv?
Stimmt! Das schreibe ich auch in unserem Buch: Wer Kalorien zählt, obwohl er immer wieder stark zunimmt, verhält sich wie ein Trinker, der die Alkoholtropfen zählt. Wer geistig stark ist, braucht keine Kalorien zu zählen. Jeder Dicke weiß doch sehr genau, was er nicht essen sollte.
Ob Essen oder Alkohol - beides kann Menschen süchtig machen. Inwiefern sind die Mechanismen ähnlich?
Ich habe über Jahrzehnte die Mechanismen der Alkoholsucht studiert und dabei festgestellt, dass hinter jeder Sucht Angst steckt. Der ängstliche Trinker möchte zunächst einmal seine Angst durch ein Streben nach Macht überwinden. Das gelingt aber nur ganz selten auf direktem Weg. Wenn er aber trinkt - wir sagen auch: sich Mut antrinkt -, dann kann er leichter mächtig auftreten. Auf der Suche nach Macht überwindet er so seine Angst. Diesen Angst-Macht-Sucht-Mechanismus habe ich genau beschrieben. Der süchtige Spieler baut seine Macht in einer Fantasiewelt auf. Dort kann er Tausende Gegner niedermetzeln und seine fiktive Stärke genießen. Bei der Esssucht läuft das etwas anders: Der Genuss süßer oder fettiger Kohlenhydrate führt zu einer Euphorie durch Ausschüttung des Glückshormons Serotonin. So kann man mit einem Schokoriegel nach Belieben käufliche Lust anstelle von Frust setzen.
Abnehmen ist fast immer eine Qual. Warum fällt es uns so schwer, uns neue Essgewohnheiten zu eigen zu machen?
Wenn man das Abnehmen als einen Verzicht betrachtet, wird es schnell zur Qual - da haben Sie Recht. Deswegen habe ich eine Ernährungsform gefunden, in der man auf fast nichts verzichten soll. Man muss nicht einmal Kalorien zählen dabei. Sie können einkaufen wie bisher, Ihren Kühlschrank ganz normal füllen. Sie sollen nur auf eines achten: Eiweiß und Kohlenhydrate sollen getrennt gegessen werden mit einer Pause von etwa vier Stunden. Sie können Fleisch mit Gemüse und Salat in beliebiger Menge essen. Neutrale Lebensmittel wie weiße Käsesorten, Joghurt, Nüsse, Salate, alle Gemüsesorten können Sie zu jeder Mahlzeit nach Belieben essen, zum Beispiel auch Brot mit Butter und fettem Käse. Das klingt doch nicht nach Verzicht, oder?
Aber das muss man ein Leben lang so machen?
Nein. Nur solange Sie richtig abnehmen wollen. Danach können Sie zu normalem Essen zurückkehren. Und wenn Sie wieder zunehmen, trennen Sie wieder Eiweiß und Kohlenhydrate - jedenfalls mal für eine gewisse Zeit. Dass eine Gewichtsabnahme für alle Ewigkeit Bestand hat, von dieser Vorstellung sollte man vielleicht Abschied nehmen.

Wer es schafft, den eigenen Leistungsdruck in positive Leistung umzusetzen, der wird kaum Probleme mit dem Naschen haben.
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Im Grunde ist anders essen lernen doch genauso schwer wie sich das Rauchen abzugewöhnen.
Ich habe es gerade beschrieben: Sie müssen auf nichts verzichten - nur Kohlenhydrat und Eiweiß trennen. Das wäre etwa der Verzicht auf Geschnetzeltes an Rösti oder Schnitzel mit Pommes. Das sollte aber leichter sein als mit dem Rauchen aufzuhören. Auf eines sollten Sie allerdings komplett verzichten: Ganze Tafeln Schokolade oder tütenweise Gummibärchen zu verputzen. Wenn Sie aber eine leckere Schokolade mit hohem Kakaoanteil kaufen und die dann in kleinen Mengen essen, macht das auch nichts. Schwerer, weil teurer, ist es dann schon, sich eine etwas bessere Qualität zu leisten - also Biogemüse und ungespritztes Obst. Aber da muss sich ja jeder nach seinem Geldbeutel richten.
Und wie ist das mit dem Hunger zwischendurch?
Da sprechen Sie etwas an, was das Abnehmen stark gefährdet: Die Riegel-Industrie hat dafür gesorgt, dass wir auf den kleinen Hunger konditioniert sind. Diese Gewohnheit kann den Erfolg kaputtmachen. Die Trennung von Eiweiß und Kohlenhydraten funktioniert nämlich nur, wenn wir dem Darm die Verdauungspause von vier Stunden gönnen. Ich empfehle einfach, sich ein paar ungeschälte Mandeln in die Tasche zu stecken und bei Hungerattacken fünf bis zehn Mandeln zu essen. Die Mandeln sind neutral, und der Hunger ist erstmal weg. In einer Packung Mandeln sind 200 Mandeln - das reicht für mindestens 20 kleine Attacken.
Markus Jensch, Johanna Mottola-Kirchner: "Schlank und stark" , Herzsprung Verlag, 13,90 Euro