KampfsportJudo als der sanfte Weg
Köln – Judo ist eigentlich eher für den Geist als für den Körper gedacht. Der Japaner Kano Jigoro entwickelte Ende des 19. Jahrhunderts ein Übungssystem, das den Verstand seiner Schüler stärken und sie zu besseren Menschen erziehen sollte. Grundlage bildete das damals weit verbreitete japanische Ju Jitsu, das Jigoro selbst beherrschte. Er entlehnte diesem Kampfsport die Techniken der Griffe und Würfe, eliminierte nahezu alle Tritte und Schläge und schuf so eine neue Art der Bewegung. Judo – übersetzt „der sanfte Weg“ – war geboren. Die japanische Silbe „Ju“ bedeutet sanft, weich, „Do“ ist der Weg und soll daran erinnern, dass der Übende sich nie am Ziel seiner Ausbildung befindet, sondern immer auf dem Weg ist. Kano Jigoro sah Judo nicht nur als Kampfsport, sondern auch als Training, um Körper und Verstand in Harmonie und Ausgeglichenheit zu versetzen. Der neue Sport wurde als Erziehungssystem etabliert und Pflichtfach an japanischen Schulen. „Mit anderen Sportarten hätte man die Kinder und Jugendlichen nicht so gut erziehen können. Das Besondere liegt im Kampf. Ich muss verlieren lernen, um siegen zu können“, sagt Ralf Lippmann, Lehr- und Prüfungsreferent des deutschen Judobundes.
Einander helfen und verstehen
Die japanische Judo-Tradition fußt auf zwei philosophischen Fundamenten. Zum einen sollen die physischen und mentalen Kräfte möglichst effektiv genutzt werden, also eine maximale Wirkung bei minimalem Aufwand erzielen. Alle Techniken aus dem Ju Jitsu, die nicht diesem Prinzip entsprechen, sortierte Jigoro deshalb aus. Zum anderen ist das „beiderseitige Wohlergehen durch gegenseitiges Helfen und Verstehen“ zentral. Judoka sollen diese Prinzipien bei jeder Bewegung auf der Matte in sich tragen. Obwohl sich Judo mittlerweile dem Leistungssport angepasst hast, wirkt die lange Tradition bis heute fort.
Die zehn Werte des Judo werden schon den Jüngsten vermittelt. Sie lauten: Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Ernsthaftigkeit, Respekt, Bescheidenheit, Wertschätzung, Mut, Selbstbeherrschung und Freundschaft. „Im Judo sind vor allem Bescheidenheit und Fairness wichtig. Wir helfen jedem und trainieren mit jedem, unabhängig von Alter, Geschlecht und Können“, erklärt Frank Wieneke, wissenschaftlicher Referent der Trainerakademie Köln des Deutschen Olympischen Sportbundes. Wieneke gewann 1984 selbst olympisches Gold und holte vier Jahre später noch eine Silbermedaille im Judo. Danach war er acht Jahre lang Bundestrainer, unter anderem von Ole Bischof, der 2008 in Peking Olympiasieger wurde.
Kinder erfahren viel Respekt
Von der Fairness im Judo können gerade Kinder profitieren. „Sie erfahren auf der Matte sehr viel Respekt, auch von Älteren und Lehrern. Sie werden äußerst fair behandelt. Das ist sonst nicht immer selbstverständlich“, glaubt Martin Drechsler, Vorsitzender des Judovereins Bushido Köln, ehemaliges Nationalmannschaftsmitglied und Frauentrainer am Bundesstützpunkt in Köln. Er selbst hat schon mit sieben Jahren angefangen zu trainieren. Wer Judo praktiziere, erhalte meist auch von Klassenkameraden mehr Anerkennung. Auch die klaren Regeln seien für Kinder gut. Sie lernten auf der Matte, sich in ihren Partner einzufühlen, sich selbst zu beherrschen und diszipliniert zu sein. Weil im Wettkampf bestimmte Gewichtsklassen eingehalten werden müssten, wirke sich das auch auf das Essverhalten aus. Judo schule zudem die koordinativen Fähigkeiten und die körperliche Fitness. „Wenn das eigene Körperempfinden gestärkt wird, stärkt man automatisch auch das Selbstbewusstsein“, glaubt Drechsler.
Swantje Kaiser, die seit einigen Jahren in der Nationalmannschaft kämpft, bestätigt das: „Judo fördert das Selbstbewusstsein, weil man sich mit großen Leuten messen und sie auch besiegen kann. Man lernt, nie aufzugeben. Jeder kann seine Ziele erreichen, wenn er es Schritt für Schritt angeht.“ Trotz der positiven Auswirkungen auf den Charakter: „Ein Allheilmittel ist Judo nicht“, wirft Ralf Lippmann ein. „Judo hat einen enormen Zulauf, weil sehr viele Ärzte es gegen alle Arten von sozialen und körperlichen Störungen empfehlen. Das ist schön, aber Judo kann nicht kitten, was sonst im Leben schiefläuft.“
Und selbstverständlich wird auf der Matte nicht nur der Charakter geschult, sondern auch der Körper. Beim Judo wird gerungen, geworfen und bezwungen, die Partner fliegen regelrecht durch die Halle. Tritte und Schläge gibt es ausschließlich in Selbstverteidigungsübungen, Waffen, Stöcke oder Messer werden grundsätzlich nicht verwendet.
Werfen, hebeln und fixieren
Das System konzentriert sich nur auf Techniken, die den Gegner zur Aufgabe bringen sollen. „Jeder trägt die Verantwortung dafür, dass der Trainingspartner sich nicht verletzt“, sagt Wieneke. Die beiden Säulen des Judo sind im traditionellen Sinne meist der Formenlauf (japanisch: Kata) und der Übungskampf (japanisch: Randori). Am Anfang des Kampfes stehen die Partner sich gegenüber. Mit Wurftechniken (Nage-Waza) soll der Partner vom Stand in die Bodenlage gebracht werden. Um sich bei den Würfen nicht zu verletzen, lernen alle Judoka Falltechniken (Ukemi-waza), zum Beispiel das Abrollen über die Schulter.
Mit verschiedenen Bodentechniken (Katame-waza und Ne-waza) kann man einen Gegner entweder festhalten, hebeln oder würgen. Mit Haltetechniken wird der geworfene Partner in der Rückenlage am Boden fixiert. Hebeltechniken werden mit kontrolliertem Druck ausschließlich auf den Ellenbogen angewandt. Wie beim Hebeln ist es auch Ziel des Würgens, den Gegner zur Aufgabe zu zwingen. Halsschlagadern und die Halsvorderseite dürfen angegriffen werden, direkte Angriffe auf den Kehlkopf sind verboten. Um einen Kampf zu beenden, gibt es vier Möglichkeiten: den Gegner mit Kraft oder Schwung auf den Rücken werfen, ihn 20 Sekunden lang am Boden im Haltegriff halten, das Ellbogengelenk hebeln oder ihn würgen, bis die Luftzufuhr unterbrochen wird und er abklopft. Der Gegner hat immer die Möglichkeit, abzuklopfen und den Kampf damit zu beenden.
Wie alle Kampfsportler setzen Judoka ihr Können außerhalb der Matte meist nicht ein: „Wir sind eher zurückhaltende Menschen als Draufgänger und gehen Gewaltsituationen aus dem Weg. Ein Kampf muss auch unter Gleichberechtigten stattfinden“, sagt Frank Wieneke. Martin Drechsler ergänzt: „Wir verhalten uns ruhig und deeskalierend, aber niemals duckmäuserisch.“