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Leise MenschenDie leise Macht der Introvertierten

6 min

Meryl Streep bei der Oscar-Verleihung 2014. Sie gilt als introvertierte Person.

Frau Löhken, heute werden Kinder von früh auf zur Selbstdarstellung getrimmt. Nur wer sich gut verkaufen kann, kommt weiter. Gehört die Welt den Lauten?

Ja, auf den ersten Blick sieht es vielleicht so aus, weil man die Lauten viel mehr hört und die Leisen weniger auffallen. Natürlich ist es wichtig, dass ich meine Leistung und Persönlichkeit auch darstelle. Auf der anderen Seite haben aber auch leise Menschen ein großes Kapital, das heute wahnsinnig wichtig ist. Sie können zuhören, sich auf das Wesentliche konzentrieren und sind vertrauenerweckend.

Aber wenn es um die Beförderung geht, dann haben trotzdem die Lauten die Nase vorn...

Nicht zwingend. Allerdings haben Introvertierte durchaus auch eine Bringschuld, zu zeigen, was sie auf dem Kasten haben. Es nützt doch nichts, wenn der Chef mich nicht kennt und weiß, dass ich an der zu besetzenden Stelle Interesse habe. Ich kann aber als leise Persönlichkeit auf meine Weise dafür sorgen, dass meine Leistung und mein Interesse sichtbar werden. Es gibt genügend erfolgreiche Führungskräfte, die introvertiert sind.

Zum Beispiel?.

Angela Merkel ist introvertiert, genau wie Barack Obama, Microsoft-Chef Bill Gates oder Sänger Bono und Schauspielerin Meryl Streep.

Auf Bühne und Leinwand wirken die letztgenannten gar nicht so…

Bei der Beurteilung, ob jemand introvertiert oder extrovertiert ist, geht es um die zugrundeliegende Struktur, um den Kern unserer Persönlichkeit. Und den zu nutzen, darin besteht die eigentliche Kunst. Ein Beispiel: Angela Merkel wird immer vorgeworfen, dass sie zu ruhig und zögerlich agiere. Die Frage ist allerdings: Ist nicht ihre Politik der ruhigen Hand in krisengeschüttelter Zeit genau das, was die Leute schätzen. Merkel ist auf leise Weise erfolgreich.

Sie differenzieren leise und introvertiert. Was ist der Unterschied?

Der Begriff „introvertiert“ ist negativ eingefärbt und klingt wie ein Makel. Er wird oft fälschlicherweise gleichgesetzt mit schüchtern oder gehemmt. Das ist bei dem Wort „leise“ nicht so.

Sylvia Löhken: „Intros und Extros. Wie sie miteinander umgehen und voneinander profitieren“, Gabal, 24,90 Euro.

„Leise Menschen – starke Wirkung. Wie Sie Präsenz zeigen und Gehör finden“, 24,90 Euro

Warum sprechen Sie selbst in Ihrem Buch von Intros und Extros?

Weil ich als Gegenteil zu „leise“ nicht „laut“ sagen wollte. Das hätte ja wiederum für die Extrovertierten einen negativen Beigeschmack. Also habe ich selbst die neutralen Begriffe Intros und Extros geprägt. Im zweiten Buch ging es mir darum darzustellen, dass die Welt Intros und Extros braucht und beide nur im Team stark sind, sonst hätte die Evolution einen von uns ja aussortiert. Die Abkürzungen sollen verdeutlichen, dass die beiden auf Augenhöhe sind.

Wie viele gibt es denn von beiden?

Egal in welche Kultur sie gehen, in eine eher introvertierte wie in Finnland oder Japan oder in eine eher extrovertierte wie in Italien oder den USA – überall liegt der Anteil bei 30 bis 50 Prozent.

Weiß man, warum Intros und Extros so unterschiedlich ticken?

Wissenschaftlich belegt sind drei große Unterschiede. Zum einen ist der Bereich unseres Nervensystems, der für Ruhe zuständig ist, bei Intros stärker ausgeprägt, bei Extros ist es der Bereich, der für Aktion zuständig ist. Zum anderen haben Extros nachweislich mehr Andockstellen für Sinneseindrücke von außen. Deshalb langweilen sie sich auch schnell, wenn nichts passiert. Dafür haben Intros mehr Energie, Elektrizität und Blutfluss im frontalen Cortex, das heißt, sie sind stärker damit beschäftigt Informationen zu vergleichen, auszuwerten und Probleme zu lösen. Außerdem ist bei Extros im Gehirn das Belohnungszentrum stärker ausgeprägt, bei Intros das Vorsichtszentrum.

Wie wirken sich diese Unterschiede konkret aus?

Ein Beispiel: Intros haben ein viel ausgeprägteres Bedürfnis nach Ruhe, weil ihre Andockstellen für Sinneseindrücke schneller belegt sind. Für eine introvertierte Person wäre es nach einem Tag voller Eindrücke deshalb auch nicht entspannend, zum Abschluss gemütlich über einen Weihnachtsmarkt zu gehen, wo es viel zu gucken, zu riechen, zu schmecken oder hören gibt. Durch eine schnelle Überstimulation brauchen wir unsere Ruhe, wenn der Akku voll ist.

Sie sprechen von „Wir“. Halten sie sich selbst für introvertiert – obwohl sie kürzlich als Vortragsrednerin ausgezeichnet wurden?

Introvertiert sein heißt ja nicht, dass man nicht mit Worten und Menschen umgehen kann. Ich muss einfach meinen Tag so verbringen, wie er zu meiner Persönlichkeit passt und das bedeutet, dass ich auch Zeit zum Regenerieren brauche. Bei Seminaren etwa wäre es für mich sehr anstrengend, abends mit den Teilnehmern noch ein Bier zu trinken. Ich bin dann lieber alleine im Hotel, um in Ruhe neue Energien zu tanken. Für viele Extros hingegen wäre das ein Horror. Aber egal, ob Intro oder Extro – beide können ein Leben als Vortragsredner auf der Bühne führen – nur sieht es ganz anders aus.

Ist es eine Frage der Veranlagung, ob man Intro oder Extro ist?

Wir werden natürlich mit einer introvertierten oder extrovertierten Neigung geboren. Aber unser Gehirn ist bei unserer Geburt noch nicht fertig entwickelt. Viele Nervenverbindungen werden erst aufgrund von Erfahrungen gebildet. Und auch das hat noch einmal Einfluss auf unsere Persönlichkeit. Die meisten Menschen liegen im Intro-Extro-Kontinuum im mittleren Bereich und vereinen extro- und introvertierte Eigenschaften.

Welchen Einfluss hat Erziehung?

Man sollte sein Kind so annehmen wie es ist, denn man kann einen Intro nicht zu einem Extro ummodeln. Allerdings kann man als Intro lernen, seinen Aktivitätsradius zu erweitern. Ich selber habe einen introvertierten Sohn. Ich habe mit ihm von der Grundschule an eingeübt, dass er sich mit dem Wissen, dass er gut vorbereitet ist, vor jeder Stunde vornimmt, sich dreimal zu melden. Heute hat er keine Probleme bei der mündlichen Mitarbeit. Auch haben wir ihn motiviert zu musizieren und aufzutreten. Das gibt Intros die Sicherheit, die sie brauchen, um aus der Komfortzone herauszukommen.

Haben Sie eine Strategie für Leise, die sich um einen Job bewerben?

Als Intro würde ich nie unvorbereitet in ein Jobinterview gehen, ich würde versuchen, mich vorab auf die Gesprächspartner einzustellen, mich auf die Sachthemen zu konzentrieren und mit diesem soliden Wissen in das Gespräch gehen. Das schafft Sicherheit. Eine Leitfrage bei der Vorbereitung sollte zudem sein: Welche Probleme kann ich für meinen Arbeitgeber lösen. So kann man sich als Problemlöser präsentieren. Ich weiß, dass für viele Intros ein Jobinterview in großer Runde der Horror ist. Hier würde ich empfehlen, sich zunächst auf eine Person zu konzentrieren und dann strategisch den Augenkontakt zu verteilen. Wenn meine Körpersprache sitzt, kann ich auf eigene Weise souverän und zugewandt wirken.

In ihrem neuen Buch zeigen sie Wege auf, wie Intros und Extros harmonieren und Unternehmen von beiden profitieren können.

Damit Intros und Extros harmonieren, sollte man erstens über die Unterschiede Bescheid wissen. Zweitens die eigenen Stärken kennen und drittens versuchen, verschiedene Stärken zusammenzulegen und voneinander zu lernen. Voraussetzung ist, dass im Unternehmen die Konzeptarbeit genauso viel wert ist wie das Verkaufen. Bei gegenseitiger Wertschätzung können Intros und Extros am meisten leisten – weil jeder das tun darf, was er am besten kann.