MädchenDie Kindheit endet immer früher

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Gerade noch haben sie mit Puppen und Prinzessin Lillifee gespielt. Sind in Pfützen herumgetollt. Und waren ganz einfach Kinder. Jetzt wachsen ihnen plötzlich Brüste und Schamhaare. Sie benutzen heimlich Mamas Lippenstift. Und ihre Psyche wackelt zuweilen bedenklich. Sie sind noch nicht mal zehn - und scheinen doch schon mitten in der Pubertät zu sein. Wer sich in seinem Bekanntenkreis umhört, gewinnt leicht den Eindruck, dass gerade Mädchen immer früher damit aufhören, Kinder zu sein.
Auch Studien bestätigen den vermeintlichen Trend. Im November veröffentlichte die Fachzeitschrift "Pediatrics" eine Untersuchung von US-Medizinern, der zufolge weiße amerikanische Mädchen im Schnitt mit 9,7 Jahren erste Brustansätze zeigen. Bei schwarzen Mädchen geht die Entwicklung sogar schon mit 8,8 Jahren los. Das Team um Frank Biro vom Cincinnati Children's Hospital Medical Center hatte für seine Studie mehr als 1200 Mädchen untersucht. Die Forscher entdeckten unter anderem einen Zusammenhang mit dem Körpergewicht: Je mehr Kilos die Kinder auf die Waage brachten, desto früher wuchsen ihnen Brüste.
Brustansatz mit sieben Jahren
Biro hatte bereits im Jahr 2010 mit einer anderen Untersuchung von sich reden gemacht. Damals hatten er und seine Kollegen berichtet, dass rund zehn Prozent der weißen und 23 Prozent der schwarzen Mädchen schon im Alter von sieben Jahren erste Brustansätze zeigten. Bei einer ähnlichen Studie aus dem Jahr 1997 waren es nur fünf beziehungsweise fünfzehn Prozent gewesen. Beginnt die Pubertät also wirklich immer früher?
Kinderärzte sind sich in dieser Frage nicht ganz einig. Fakt ist, dass noch Mitte des 19. Jahrhunderts Mädchen ihre erste Regelblutung im Schnitt mit 16 oder 17 Jahren hatten. Hundert Jahre später lag das Durchschnittsalter bereits zwischen 13 und 14 Jahren. Heute bekommen Mädchen ihre Periode im Schnitt mit 12 bis 13 Jahren. "Fakt ist aber auch, dass das Alter, in dem Mädchen ihre erste Menstruation haben, in den letzten 20 Jahren sehr konstant geblieben ist", sagt Heiko Krude vom Institut für Experimentelle Pädiatrische Endokrinologie der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Der Mediziner verweist auf eine Studie, die er gemeinsam mit Kollegen im Jahr 2009 im "European Journal of Endocrinology" veröffentlicht hat. Für sie hatten die Forscher 1840 Berliner Mädchen im Alter zwischen 10 und 15 Jahren untersucht und nach ihrer ersten Periode befragt. "Interessant an den Ergebnissen war vor allem, dass sich der Zeitpunkt der ersten Regelblutung trotz zunehmenden Übergewichts in den letzten 20 Jahren nicht weiter nach vorne verschoben hat", sagt Krude. Auf einen Zusammenhang zwischen dem Gewicht der Mädchen und ihrer ersten Menstruation stieß er nämlich durchaus. Demnach bekommen normalgewichtige Mädchen ihre Periode mit durchschnittlich 12,9 Jahren. Übergewichtige sind bei ihrer ersten Blutung im Schnitt 12,5, untergewichtige 13,7 Jahre alt.
Warum das Gewicht den Pubertätsverlauf beeinflusst, ist inzwischen recht gut untersucht. Man weiß etwa, dass die Fettzellen des Körpers das Hormon Leptin produzieren. Dieses wirkt im Gehirn nicht nur appetitzügelnd, sondern signalisiert dort offenbar auch, dass der Körper nun ausreichend Fettreserven für eine Schwangerschaft besitzt. "Besonders eindrücklich ist dieser Signalweg bei magersüchtigen Kindern", sagt Krude. "Bei ihnen kann wegen des sehr niedrigen Leptin-Spiegels im Blut die Pubertät ganz ausbleiben." Darüber hinaus bildet das Fettgewebe ebenso wie die Eierstöcke weibliche Sexualhormone. "Übergewichtige Mädchen haben daher oft schon im Grundschulalter deutliche Brustansätze", sagt Krude. Die Entwicklung der Brust als ein Indiz für den Pubertätsbeginn zu nehmen, hält der Mediziner daher für problematisch. "Die echte Pubertät beginnt im Gehirn", sagt er. Außerdem kritisiert Krude die Methoden seiner US-Kollegen, die die Brüste der Mädchen nur abgetastet haben: "Um Brustdrüsen- und Fettgewebe voneinander zu unterscheiden, braucht es einen Ultraschall."
Dass die Pubertät im Vergleich zu vergangenen Jahrhunderten heute früher beginnt, lässt sich ohnehin nicht allein durch zunehmendes Übergewicht erklären. Auch Umweltchemikalien wie Weichmacher, die im Körper zum Teil wie weibliche Hormone wirken, sind nach Meinung der meisten Mediziner nicht in der Lage, den Pubertätsbeginn zu beeinflussen. "Denkbar ist, dass die veränderte Zusammensetzung der Nahrung eine Rolle gespielt hat", sagt Krude. Noch entscheidender könnten soziale Faktoren gewesen sein. So weiß man aus Tierversuchen, dass Mäuse, die nur mit weiblichen Artgenossen zusammenleben, später geschlechtsreif werden als solche, die in gemischten Gruppen aufwachsen. Beobachtungsstudien haben zudem gezeigt, dass Mädchen, die in Patchwork- oder Adoptivfamilien aufwachsen - also mit genetisch nicht verwandten Menschen des anderen Geschlechts zusammenleben - ihre erste Periode im Schnitt früher bekommen als solche, die zu Hause nur ihre leiblichen Väter und Brüder um sich haben.
Gendefekt löst Pubertät aus
Auch Mädchen, denen ein behütetes Zuhause fehlt, scheinen meist früher in die Pubertät zu kommen. Was genau den entscheidenden Schalter im Gehirn umlegt, der die Mädchen zu jungen Frauen heranwachsen lässt, ist allerdings unklar.
Extreme Fälle bieten oft Anlass zur Sorge: Wenn schon Kleinkinder Brustansätze oder Schambehaarung zeigen, kann sich dahinter ein Tumor verbergen. Auch Gendefekte können die Pubertät vorzeitig anstoßen. "Bei etwa 90 Prozent der Sechs- bis Siebenjährigen, die Anzeichen einer beginnenden Geschlechtsreife zeigen, finden wir jedoch keine krankhafte Ursache", sagt Alexandra Keller, Leiterin der Kinderendokrinologie im Kinderzentrum in Leipzig. Dann müssen die Ärzte gemeinsam mit dem Kind und seinen Eltern überlegen, was zu tun ist.
Kinderärzte plädieren inzwischen nahezu einhellig dafür, der Natur ihren Lauf zu lassen, wenn die ersten Anzeichen der Pubertät nach dem achten Geburtstag auftreten. Werden die körperlichen Veränderungen früher sichtbar, können Medikamente die Entwicklung verzögern. Dazu erhalten die Mädchen spätestens alle 28 Tage eine Injektion mit dem Wirkstoff Leuprorelinacetat oder Triptorelinacetat. Beide Substanzen unterbinden die körpereigene Produktion von Sexualhormonen - und sind nach heutigem Wissen nur mit geringen Risiken behaftet. "Ein Kind unter acht Jahren nicht zu behandeln, birgt Risiken - sowohl seelische als auch körperliche", sagt Keller. Die möglichen psychischen Probleme sind offensichtlich: "Die Mädchen unterscheiden sich nicht nur äußerlich von ihren Klassenkameradinnen, sondern empfinden auch anders als sie." Viele fühlten sich noch unverstandener, als es in der Pubertät ohnehin üblich sei. Körperlich führt eine zu frühe Geschlechtsreife, abgesehen von dem Risiko einer Schwangerschaft, vor allem dazu, dass die Mädchen eher klein bleiben. Denn mit dem Einsetzen der Menstruation sind ihre Knochenfugen in der Regel geschlossen. Wichtig ist, dass besorgte Eltern ihre Töchter rechtzeitig einem Kinderarzt vorstellen, sagt Alexandra Keller: "Für ein Mädchen, das mit sieben Jahren regelmäßig seine Tage bekommt, können wir nichts mehr tun. Bei ihm ist die Entwicklung schon weitgehend abgeschlossen."
Buchtipps:
Joachim Braun und Kirsten Khaschei: "Mädchen in der Pubertät. Wie Töchter erwachsen werden",Rowohlt, 288 Seiten, 9,99 Euro.
Cathrin Kahlweit und George Deffner: "Pubertäter. Wenn Kinder schwierig und Eltern unerträglich werden" , Piper, 224 Seiten, 8,99 Euro.