Meist NervensacheTherapie eines Reizdarms ist oft langwierig

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Reizdarm

Die Krankheit Reizdarm ist eine Folge von Angst und Stress - Millionen sind betroffen.

Frauen und Männer, die mit diffusen Magen-Darm-Beschwerden wie Blähungen, Verstopfung, Durchfall, Schmerzen, Unwohlsein zum Arzt gehen, laufen oft Gefahr, dass ihnen der Stempel „Reizdarm“ aufgedrückt wird. Spätestens dann sind sie für die meisten Fachärzte so etwas wie ein rotes Tuch. Weil: Mit denen muss man ewig lange reden, zig Untersuchungen machen, vieles ausprobieren, vieles verwerfen – sprich, das rechnet sich nicht. Hinzu kommt, dass diese Patienten nicht ernst genommen, oftmals in die Rubrik „Spinner“ eingeordnet werden, man ihnen am liebsten eine Broschüre mit „gesunder Ernährung“ und „richtiger Bewegung“ in die Hand drückt und durchatmet, wenn sie endlich wieder durch die Tür sind.

Insofern ist Professor Dr. Thomas Frieling, Neurogastroenterologe und Chefarzt an der Helios Klinik in Krefeld, eine Ausnahmeerscheinung: Er ist Experte für Reizdarm. Dieses mittlerweile anerkannte Krankheitsbild ist für Arzt und Patient im wahrsten Sinne des Wortes Nervensache, weil es unter anderem um das Nervensystem im Darm geht, gern Bauchhirn genannt. Das kann genauso quer reagieren wie das Kopfhirn, von dem es sich übrigens nichts vorschreiben lässt – umgekehrt auch nicht. Frieling: „Bei Reizdarm-Patienten lassen sich nachweislich Veränderungen der Nervenzellen im Magen-Darm-Trakt feststellen.“

Das wurde mittlerweile vom renommierten Wissenschaftsjournal „Nature“ publiziert. „In der Darmwand sind Zellen, die Reize aufnehmen. Bei Reizdarm-Patienten sind diese Zellen und ihre Verbindungen zum Kopfhirn sensibilisiert, was dazu führt, dass sie Symptome im Magen-Darm-Trakt schneller und stärker spüren, sich folglich Beschwerden, Schmerzen und zutiefst unangenehme Folgen einstellen“, erläutert Thomas Frieling. „Was andere Menschen als normale Körpersignale definieren, wird von Reizdarm-Patienten als Krankheit empfunden, aber nicht, weil sie sich das einbilden, sondern weil es bei ihnen so ist.“ Der Grund kann so vielfältig wie die Krankheit sein.

Bevor der Arzt auf Ursachensuche geht, muss er sicherstellen, dass andere organische Erkrankungen nicht vorhanden sind, also keine gynäkologischen oder urologischen Befunde, kein Krebs, keine Schäden an Galle, Niere, Leber, Magen und Speiseröhre. Wenn all das zuverlässig abgeklärt ist, geht es an die zeitraubende Feinarbeit. Bei der kann sich herausstellen, dass nicht etwa Störungen im Dickdarm Ursache der Beschwerden sind, sondern vielmehr Dünndarm und Magen. Oder aber, dass vermehrt Immunzellen in der Darmwand vorhanden sind, die das „Computerprogramm“ des Bauchhirns quasi „hacken“. Möglicherweise ausgelöst durch eine Jahre zurückliegende längst überwundene Salmonellen-Infektion sowie andere akute oder abgeheilte Entzündungen. Frieling: „Das Bauchhirn kann eine Fehlprogrammierung durch die Immunzellen, die die Beschwerden verursachen, wieder vergessen und verlernen. Aufgrund einer gewissen Grundprogrammierung im Bauchhirn können solche Veränderungen offensichtlich rückgängig gemacht werden.“ Aber: Das dauert.

Keine Erbkrankheit

Reizdarm-Anfälligkeiten können an die nächste Generation weitergegeben werden, „aber Reizdarm ist keine Erbkrankheit. Nur die Bereitschaft wird übertragen“. „Bei Mäusen“, so Frieling, „wurde nachgewiesen, dass gestresste Mäusemütter auch gestresste Mäusekinder zur Welt bringen, die aufgrund dessen einen Reizdarm entwickeln können – ebenso wie Menschen.“ Das Krankheitsbild tritt nämlich bei Mensch und Tier gleichermaßen auf.

Reizdarm steht mittlerweile im Rang einer Volkskrankheit, allerdings hauptsächlich in den Industrieländern, wo zehn bis 20 Prozent der Menschen darunter leiden. Nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder. Den Hauptanteil der Patienten stellen Frauen. Warum das so ist, weiß man nicht, nimmt aber an, dass der Hormonstatus und die eben von Natur aus anderen Nervenschaltkreise als bei Männern möglicherweise der Grund sein können. Frieling: „Die Funktion der Nerven ist bei Männern und Frauen teilweise unterschiedlich. Ebenso die Nervenzellen-Aktivität, bedingt durch den Einfluss der Hormone.“

Welche der vielen Ursachen für Reizdarm-Beschwerden auf den jeweiligen Patienten zutreffen, lässt sich durch eine simple Urin-Probe oder ein Routine-Blutbild allerdings nicht feststellen. „Nur die intensive Beschäftigung mit dem Patienten gibt Hinweise. Dann stehen die Chancen relativ gut.

Einige medizinische Zweige haben längst erkannt, dass man an diesen Kranken gut Geld verdienen kann. Diverse Pillen und Enzyme werden gern in atemberaubenden Mengen empfohlen und rezeptfrei angeboten. Sogenannte Stuhluntersuchungen, gern von den geplagten Patienten als eine Möglichkeit gesehen, bezeichnet Frieling schlichtweg als Voodoo-Medizin.

Die Bakterienbestimmung hat zur Zeit nur Relevanz in der Forschung. Pflanzliche Präparate in der Therapie haben mittlerweile einen anerkannten Stellenwert und zeigen gute Wirkung. „Carmenthin, Pfefferminzöl, Schwarzkümmelöl und Mittel wie Iberogast können lindern und helfen.“

Ziemlich gut schlägt auch die „Fodmap“-Diät an, bei der eigentlich alles, was gut schmeckt und Kohlenhydrate in welcher Form auch immer enthält, auf der roten Liste steht. „Fodmap hält man auf Dauer nicht durch, weil das die Lebensqualität doch ziemlich stark einschränkt, aber die Methode ist effektiv und hat eine hohe Erfolgsrate. Man sollte diese Diät aber nur unter ärztlicher Kontrolle machen, weil man ziemlich stark abnimmt.“

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