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Mut zur UnabhängigkeitSo lernen (Helikopter-)Eltern besser loszulassen

Lesezeit 8 Minuten

Viele Eltern bringen ihre Kinder persönlich bis zur Schule. Das stößt auf Kritik.

Eltern wollen ihre Kinder retten - und sei es nur davor, Ärger mit dem Englischlehrer zu bekommen. Das Kind hat die Englischhausaufgaben zu Hause auf dem Schreibtisch liegen lassen - was spricht dagegen, sie kurz in der Schule vorbeizubringen? Das Kind ist dankbar, die gute Note nicht in Gefahr, der Lehrer zufrieden. Oder?

Eine Schule in den USA hat genug von Eltern, die ihren Kindern ständig zu Hilfe eilen, um ihren Nachwuchs damit vor Konsequenzen zu schützen. In einem Aushang weist die Schule darauf hin, dass keine von Eltern hinterhergetragenen Hausaufgaben, Brotdosen oder Sportsachen akzeptiert werden - die "New York Times" berichtete. Die Begründung leuchtet ein: Eltern sollen ihren Kindern die Chance geben, aus ihren Fehlern zu lernen.

Überbehütende Eltern sind kein rein amerikanisches Problem. Kürzlich forderte NRW-Verkehrsminister Michael Groschek ein Halteverbot für "Elterntaxis" vor den Schulen. Der Grund: Viele Eltern bringen ihre Kinder aus Angst vor Unfällen mit dem Auto bis vor die Schultür, gehen dann oft noch bis zur Klasse mit und sorgen so für Verkehrschaos vor den Schulen. Damit wiederum gefährden sie selbst die Kinder.

Das alles ist sicher besser, als seine Kinder zu vernachlässigen. Aber wer den Nachwuchs zu selbstständigen Erwachsenen erziehen möchte, darf ihm Frust eben nicht ersparen. Das ist hart, weil Eltern das Beste wollen, aber das Beste manchmal bedeutet, das Kind seinen Weg alleine gehen zu lassen. "Solche vermeintlichen Kleinigkeiten sind ganz wichtige Maßnahmen auf dem Weg zur Selbstständigkeit", sagt Josef Kraus, Autor des Buches "Helikopter-Eltern" und Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Er gibt der amerikanischen Schule damit Recht - auch wenn ein Aushang für ihn der letzte gangbare Weg wäre.

Aber: Eltern müssen nicht nur tatenlos zusehen, wie ihre Kinder auf die Nase fallen. Sie können ihren Kindern auch aktiv auf dem Weg zum selbstständigen Erwachsenen helfen. Elisabeth Raffauf, Diplompsychologin aus Köln mit Schwerpunkt Erziehungsberatung, rät zur "Hilfe zur Selbsthilfe". Wie das funktionieren kann, zeigen wir anhand einiger Beispiele.

Organisieren

Auch wenn wir unseren Kinder keine Sachen hintertragen sollen - es gibt Ausnahmen. "Wenn ich weiß, mein Kind hat sich so auf den Sportunterricht gefreut und nun den Beutel vergessen, weil es am Morgen so hektisch zuging, spricht nichts dagegen, ihn in die Schule zu bringen", sagt Raffauf. Auch Josef Kraus sagt: "Man soll Kinder nicht gleich beim ersten Mal auflaufen lassen." Anfangs könne man bei Grundschülern schon ein-, zweimal etwas Vergessenes hinterhertragen. "Aber dann muss man sich als Eltern zurücknehmen, damit die Kinder lernen, Verantwortung für sich zu übernehmen und die Konsequenzen für ihr Handeln zu tragen."

Das Kind muss also lernen, sich selbst zu organisieren. Elisabeth Raffauf rät: "Ich kann als Elternteil in der ersten Zeit gemeinsam mit dem Kind den Schulranzen packen und dann sagen: Pack du ein, was du brauchst, ich bin dabei." Auf keinen Fall sollten Eltern für ihre Kinder die Schulsachen packen und ihnen damit die Verantwortung abnehmen. Auch den Ranzen ständig zu kontrollieren ist keine Lösung.

Vergisst ein Kind auffällig häufig zum Beispiel seinen Turnbeutel, rät Psychologin Raffauf mit dem Kind nach den Ursachen zu forschen: Was denkst du, woran könnte es liegen, dass du immer deinen Turnbeutel vergisst? Es kann sein, dass Kinder ihren Turnbeutel unbewusst deshalb liegenlassen, weil sie im Sportunterricht von anderen gehänselt werden und sich so aus der Situation retten möchten.

Anziehen

Es klingt banal, aber: "Viele Kinder können sich in der ersten Klasse nicht alleine Anorak und Schuhe an- und ausziehen", berichtet Josef Kraus. Dabei könne man das von einem Sechsjährigen erwarten. "Das gehört zur Alltagstauglichkeit." Schon im Kindergarten sollten Kinder deshalb dazu ermutigt werden, sich selbst Schuhe und Jacke an- und auszuziehen. Rechnen und Schreiben dagegen können viele Schulstarter schon, weil die Eltern mit ihnen zu Hause trainiert haben. Davon rät Josef Kraus allerdings ab. Zum einen, weil die Kinder sich einfach in der Schule langweilen, wenn sie den Stoff schon kennen, und dann die Lust verlieren. Zum anderen, weil verschiedene Unterrichtsmethoden sie verwirren können. "Wer sein Kind neugierig machen möchte auf die Schule, kann ihm vorlesen oder mit ihm ins Museum gehen", schlägt der Pädagoge vor. Ein weiterer wichtiger Punkt: In der Schule müssen Kinder zum ersten Mal lange am Stück stillsitzen und sich konzentrieren. "Das ist keine Frage des Trainings", sagt Elisabeth Raffauf. Sondern hat letztlich oft mit der Bindung zu den Eltern zu tun. "Nur wenn die Eltern sich gut vom Kind lösen können und das Kind weiß, zu Hause ist alles in Ordnung während ich in der Schule bin, kann es auch Ruhe zum Lernen finden."

Hausaufgaben

"Hausaufgaben sind ein wichtiges Diagnostikum für Lehrer", stellt Josef Kraus klar. Und der Lehrer möchte nicht wissen, ob Mama und Papa Prozentrechnen können. Sondern ob das Kind es beherrscht oder ob es noch Hilfe braucht. Deshalb plädiert Kraus dafür, dass Eltern zwar kontrollieren, ob die Hausaufgaben gemacht werden. Aber nicht, wie sie gemacht werden. Auch Elisabeth Raffauf sagt: "Eltern dürfen sich nicht als Hilfslehrer verstehen." Wohl aber als Berater. Wichtig für Kinder ist das Gefühl: Meine Eltern sind ansprechbar, wenn ich sie brauche. Aber auch, wenn Mutter oder Vater um Hilfe gefragt werden, dürfen sie dem Kind nicht die Lösung vorsetzen. Vielmehr sollten sie ihm auf dem Weg dahin helfen und - wenn nötig - nur Teilschritte lösen. Dem Kind also nicht zu sagen, was es machen soll, sondern es mit Fragen einzubinden.

Schulweg

Ein ganz großes Thema bei vielen Eltern: Kann ich mein Kind alleine zur Schule gehen oder fahren lassen? In den Augen mancher Eltern stellt der Weg zur Schule ein Labyrinth voller Gefahren dar. Ist es sicherer, das Kind jeden Morgen bis zum Klassenzimmer zu bringen? Möglicherweise. Aber: Für das Selbstwertgefühl des Kindes kann es schädlich sein, besonders wenn andere Kinder aus der Klasse schon alleine "anreisen" dürfen. "Wenn das Kind von sich aus den Wunsch äußert, alleine zur Schule zu gehen, ist das ein Zeichen", sagt Raffauf. Wenn das Kind dann immer nur nein hört, resigniert es irgendwann. Natürlich sollte man den Weg vorher gemeinsam üben und das Kind erst einmal nur einen Teil alleine zurücklegen lassen. Aber: "Kinder sind sehr stolz auf alles, was sie schon alleine können. Eltern sollten sich auch selbst fragen, warum sie nicht wollen, dass das Kind alleine zur Schule geht", rät die Psychologin. Manchmal fällt es Eltern einfach schwer, loszulassen und ihren Kindern mehr Freiraum zu geben. Die Windel, die nicht mehr gebraucht wird, der Übergang vom Kindergarten zur Schule, der alleine zurückgelegte Schulweg, all das sind Meilensteine in der Entwicklung eines Kindes, die für Eltern jedes Mal auch einen kleinen Abschied bedeuten, weil sie als Eltern weniger gebraucht werden - und das tut nicht nur Helikopter-Eltern weh.

Wenn Eltern dem Wunsch des Kindes nachkommen und es alleine zur Schule gehen lassen, macht das auch selbstsicherer. "Das Kind lernt: Ich kann auf mein Leben einwirken und etwas bewirken", erklärt Raffauf. Vorausgesetzt natürlich, der Schulweg ist für ein Kind überschaubar und gut eingeübt.

Für Josef Kraus hat das auch noch einen ganz praktischen Aspekt: "Nur so lernen Kinder, sich alleine im Straßenverkehr zurechtzufinden."

Konflikte

"Manche Kinder haben ein Handy mit in der Schule und rufen jedes Mal, wenn sie eine schlechte Note bekommen oder vom Lehrer ausgeschimpft werden, zu Hause an und wollen abgeholt werden", berichtet Josef Kraus. Kommen die Eltern dem immer nach oder fördern dieses Verhalten sogar, lernen die Kinder nicht, sich durchzusetzen. Auch Psychologin Raffauf sagt: "Es ist immer besser, wenn Kinder Konflikte selbst lösen." Es gibt natürlich auch Situationen, die Kinder überfordern. In diesem Fall sollten Eltern gemeinsam mit dem Kind überlegen, was zu tun ist. Gibt es einen Freund, den das Kind sich zur Seite holen könnte?

Zu Hause

Auch kleinere Kinder sollten schon eigene Entscheidungen treffen dürfen, wenn das möglich ist. Natürlich kann man ihnen nicht vollständig die Wahl darüber lassen, was sie essen oder anziehen sollen. Das würde Kinder auch überfordern. Aber man kann eine Vorauswahl treffen und das Kind zwischen zwei Sachen wählen lassen. Besonders beim Essen sei es wichtig, dass man das Kind nicht zwinge, etwas zu essen, betont Raffauf: "Das kann zu Ess-Störungen führen, weil das Kind sich fremdbestimmt fühlt."

Das Kleinkindalter können Eltern nutzen, um das Kind an Hausarbeiten teilnehmen zu lassen. In dem Alter helfen Kinder nämlich noch gerne. So lernen sie, diese Aufgaben zu übernehmen, und haben außerdem das Gefühl: Ich bin ein wichtiger Teil der Familie, weil ich meinen Beitrag leiste.

Wenn Kindergartenkinder beim Gemüseschnippeln helfen wollen, sollte man ihnen den Umgang mit dem Messer erklären - und sie unter Aufsicht machen lassen. "Unfälle passieren ja dann, wenn die Eltern ihnen nie den Umgang mit einem Messer gezeigt haben und sich dann erschrecken, wenn sie das Kind mit einem Messer in der Hand sehen", sagt Raffauf.

Josef Kraus: "Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung", Rowohlt-Verlag, 9,99 Euro