Interview mit Rollstuhl-Model„Ich kann herrlich über Behindertenwitze lachen“
Herr Baum, Sie arbeiten Vollzeit als Zollbeamter, Sie modeln und Sie machen Karate. Was denken Sie, wenn jemand Sie behindert nennt?
Sven Baum: Das ist eine Tatsache. Ich habe ein körperliches Handicap, auf Deutsch: eine körperliche Behinderung. Das ist für mich keine Beleidigung. Ich weiß, dass ich eine spastische Lähmung habe, also bin ich auch ein Spasti. Fertig. Ich fühle mich aber nicht gehandicapt - und kann ganz herrlich über Behinderten-Witze lachen.
Wie erreicht man dieses Selbstbewusstsein?
Baum: Ich habe früh erfahren, was durch Sport möglich ist. Da habe ich meinen Rollstuhl kennengelernt. Wenn wir am Wochenende in die Disko gegangen sind, wurde ich bestaunt, wenn ich auf zwei Rädern balancierte. Das war am Anfang ganz angenehm, das ist nett für's Ego. Mit der Zeit wurde es aber auch ein bisschen lästig, weil es für mich vollkommen normal ist, in der Disko nicht nur am Rand zu stehen, sondern einfach mittendrin zu sein.
Für viele andere - Behinderte wie Nicht-Behinderte - ist ein Rollstuhlfahrer auf der Tanzfläche kein gewohnter Anblick.
Baum: Ich weiß. Ich kenne viele junge Menschen mit Handicap, die nie auf die Idee kämen, in eine Disko zu gehen. Von denen habe ich schon Sätze gehört wie: „Was soll ich denn da? Es ist eh nicht behindertengerecht.“ Dann antworte ich: Feiern, tanzen, Spaß haben - Mann, du bist 20! Das geht an alle mit Handicap: Zeigt euch in der Öffentlichkeit! Werdet aktiv! Nur so wird sich etwas ändern!
Haben Sie deswegen vor einem Jahr mit dem Modeln angefangen?
Baum: Mir wurde immer wieder gesagt: Du bist fotogen, Sven, mach mal was daraus! Als ich dann nach dem Besuch im Fitnessstudio neben dem Mannschaftsbus eines Basketballteams meinen Rollstuhl einpackte und beobachtete, wie viele Leute vor dem plakatierten Bus der Mannschaft stehen blieben, dachte ich mir: Was für ein „Blickfang“. Über Bilder bleibt man am Besten im Kopf. Beim Reden hat man oft schnell wieder vergessen, was überhaupt gesagt wurde. Gerade bei dem Thema Handicap.
Der Rollstuhl ist bei ihren Shootings immer dabei.
Baum: Ich habe ein paar Fotoshootings gemacht und gemerkt: Der Rollstuhl ist ein Teil von mir, er soll dabei sichtbar sein. Er ist für mich kein Zeichen für Behinderung, kein Symbol für Krankenhaus oder Rehaklinik - sondern einfach ein Gefährt, ein Accessoires. Wie eine Brille. Am liebsten hätte ich für jedes Outfit einen anderen Rollstuhl. Aber das geht aus Platz- und Kostengründen natürlich nicht.
Haben Sie keine Angst, dass Ihre Behinderung von Ihren Auftraggebern nach einem Shooting instrumentalisiert wird?
Baum: Das kann man ja vorher ausschließen, indem man einen klaren Vertrag abschließt.
Wie reagiert die Wirtschaft auf Ihr Angebot?
Baum: Das ist ein sehr, sehr steiniger Weg, man muss sehr viel Überzeugungsarbeit leisten. Jeder, der die Bilder sieht, ist begeistert. Aber für die Menschen, die in den Unternehmen entscheiden, ist diese Idee und die Herangehensweise neu. Das hat noch keiner probiert und damit wird es schwer einschätzbar.
Wie relevant ist Mode für Inklusion wirklich? Zum Beispiel, wenn man als Rollstuhlfahrer mal wieder vor einer Treppe ohne Rampe steht?
Baum: Beides ist reine Kopfsache. Wie stehe ich zu mir selber? Fühle ich mich tough? Bin ich selbstbewusst genug, zu sagen: Ich kleide mich, so wie ich will? Dann suche ich auch bei einer Treppe selbstbewusst nach einer Lösung.
Was muss sich Ihrer Meinung nach in der Gesellschaft verändern?
Baum: Das fängt bei der Infrastruktur an. Es gibt viele Städte, in denen es überall Kopfsteinpflaster gibt, das für selbstfahrende Rollstuhlfahrer schwer zu befahren ist - mit der Begründung, dass man die historische Stadt erhalten möchte. Da frage ich mich schon, wo wir hier leben. Klar, ist es schön anzusehen und für die meisten kein Problem. Es geht wieder um die Einstellung, um das Bewusstsein: Okay, es gibt auch noch andere. Das heißt jetzt aber nicht, dass wir sofort alle Straßen aufreißen müssen. Es geht um den Hintergedanken, das Darüberreden. Man spürt oft, dass die meisten das Thema Handicap einfach nicht verinnerlicht haben.
Das Gespräch führte Annika Leister