Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Vice – Der zweite MannBrillante Studie über den politischen Betrieb in Washington

Lesezeit 4 Minuten
Christian Bale

Christian Bale als Dick Cheney in einer Szene des Films "Vice - Der zweite Mann"

Er ist angekommen. Das Büro ist zwar winzig und schmucklos, aber Dick Cheney hat sein Ziel erreicht – er sitzt im Weißen Haus. Dass er einmal Berater eines US-Präsidenten werden würde, in diesem Fall von Richard Nixon, hätte man nach den ersten Szenen von Adam McKays Film kaum geglaubt. Vermutlich hätte es Cheney selbst nicht getan.

Denn da muss er sich als junger Mann eine Gardinenpredigt seiner Jugendliebe Lynne anhören, die genug hat von seiner Trunksucht. Was aus dem ständig alkoholisierten Herumtreiber einmal werden würde, zeigt McKay ebenfalls gleich zu Beginn in einer zweiten Sequenz, mit der er den chronologischen Ablauf der Dinge durchbricht: Als Vizepräsident unter George W. Bush wird Cheney am 11. September 2001 in einen Regierungsbunker geführt, wo er mit äußerster Ruhe versucht, Ordnung ins Chaos zu bringen. Zwischen deutlich zu viel Schnaps und eiskalter Nüchternheit verläuft Cheneys Karriere, die McKays „Vice“ zu einem Sittenbild des politischen Betriebs in Washington ausmalt.

Cheney war stets der zweite Mann

Unter dem Vater Bush diente Cheney als Verteidigungsminister; als Vize im Kabinett des Sohnes war er maßgeblich daran beteiligt, die USA in den „Krieg gegen den Terror“ zu führen. Doch von seinen Anfängen im unscheinbaren Büro bis hin zur strategischen Ausrichtung der einzig verbliebenen Weltmacht blieb er sich in einem treu: Cheney war stets der zweite Mann, ein Phantom im Weißen Haus, welches dennoch immer nach den Regeln seiner Manipulationen funktionierte.

McKay ist also einem Zeitgenossen auf der Spur, der hartnäckig an seiner eigenen Unsichtbarkeit arbeitet. „Misstraue dem stillen Mann“, so warnt er vor seinem Protagonisten. Wo andere sprechen, beobachtet er; wo andere handeln, plant er – und wenn sich die anderen schließlich ausruhen – schlägt er zu. Es liegt etwas Bedrohliches in der wächsernen Unauffälligkeit dieses Strategen, und so wie Christian Bale ihn spielt, ist es die Bedrohlichkeit des Unergründlichen, die Cheney verströmt: Selbst wenn seine Tochter ihm gesteht, dass sie lesbisch ist, ist seine Reaktion nicht vorhersehbar. Alles würde dafür sprechen, dass dieser stockkonservative Mann endlich einmal außer sich gerät, doch Cheney stellt sich schützend hinter sie.

Viele Opfer für die Rolle

Bale stellt wieder einmal unter Beweis, zu welchen Opfern er bereit ist, wenn eine Rolle ihn reizt. Er hat in erheblichem Maß zugenommen, doch das ist nur das äußere Merkmal seiner Verwandlung in Dick Cheney. Sein statuarischer Auftritt, sein Lauern in den Hinterzimmern der Politik, seine Technik der Einflüsterung, die er bei einem Provinzler wie George W. Bush zur Perfektion bringt, auch die Disziplin, die ein Technokrat der Macht wie Cheney benötigt, all das betreibt Bale mit einer Souveränität, die an ein Wunder grenzt: Er spielt den ewigen Zweiten und doch ganz zweifellos die Hauptrolle.

„Vice“ bietet aber noch eine Reihe weiterer beeindruckender Leistungen. Sam Rockwell etwa porträtiert Bush, den Jüngeren, als einen Präsidenten voller Unzulänglichkeiten, aber gleichzeitig als Mann, der um seine Defizite weiß – deshalb bewahrt er ihn vor einer bloßen Karikatur. Amy Adams spielt die Frau des Vize als unerbittliche Karriereplanerin und scheint doch losgelöst von politischen Überzeugungen. Eine Second Lady, die ebenso undurchsichtig wirkt wie ihr Mann. Allein Steve Carell als Donald Rumsfeld stört die unheimliche Geräuschlosigkeit der Strippenzieher mit polterndem Sarkasmus und wird dafür bestraft – auch das dürfte durchaus lebensecht sein.

„Saturday Night Live“ schimmert durch

Dabei bleibt McKay zurückhaltender als in seinem Ökonomiedrama „The Big Short“, was Tempo und Radikalität der Schnitte betrifft. Doch ganz verleugnet er seine Wurzeln in der amerikanischen Satiresendung „Saturday Night Live“ nicht – glücklicherweise. Einmal, und da befindet er sich noch im Vorfeld des Irak-Krieges, beendet er seinen Film vorzeitig mit einem fingierten Abspann, der dem schwergewichtigen Cheney einen frühen politischen Ruhestand und eine zweite Karriere als Iron Man andichtet. Ein anderes Mal rezitieren der Vize und seine Gattin spätnachts im Bett Shakespeare-Tragödien, als seien sie das Ehepaar Macbeth.

Wieso aber sollte man sich ein Königsdrama um einen Akteur ansehen, über dessen unrühmliche Taten die Geschichte hinweg gegangen zu sein scheint? Tatsächlich ist „Vice“ ein hochaktueller Film, denn in Bushs und Cheneys politischem Stil modelliert er bereits die Egoismen und die Rücksichtslosigkeit, die derzeit im Weißen Haus herrschen. Hier sind die Wegbereiter eines Donald Trump am Werk, Politiker, für die ihre republikanische Partei allenfalls ein Vehikel ist, das sie an die Macht bringt. Es ist die gedankliche Leere, ja die geistige Armut, die an Cheney am meisten erschreckt.

Zum Film

Vice – Der zweite Mann USA 2018, 132 M., R Adam McKay, D Christian Bale, Amy Adams, Sam Rockwell

Hellsichtige Studie Dick Cheneys, eines Technokraten der Macht, die durch schauspielerische Leistung und stilistisches Risiko beeindruckt.