Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Wissenschaft und ExpertentippsDem Rätsel Alzheimer auf der Spur

Lesezeit 6 Minuten

Über die organischen Anzeichen der Alzheimerkrankheit – zu denen vor allem Protein-Ablagerungen zählen, die sogenannten amyloiden Plaques und Tau-Fibrillen, der Verlust von Nervenzellen und deren Verbindungen sowie Entzündungsreaktionen – und ihr Zusammenspiel weiß man immer mehr. „Was man nicht weiß: Warum bei dem einen die Kaskade anläuft und beim anderen nicht. Und warum manche Menschen einen größeren Verlust an Hirnzellen aushalten als andere – was diese Reservekapazität bedingt, ist unklar“, sagt Frank Jessen, Professor für klinische Demenzforschung an der Psychiatrischen Universitätsklinik Bonn und am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen.

Die Funktionsweise des Gehirns ist in vieler Hinsicht immer noch ein Rätsel – zu beschreiben, was falsch läuft, wenn man die Normalität nicht erklären kann, ist doppelt schwer. Dazu macht es der lange Verlauf der Alzheimerkrankheit, deren Beginn Jahre, wenn nicht Jahrzehnte vor den ersten Symptomen liegt, nahezu unmöglich, sie experimentell zu untersuchen, sagt Thomas Arendt, Professor für Neurowissenschaft und Leiter des Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Universität Leipzig. „Es wurde schon alles Mögliche als Konzept propagiert: Infektionstheorien, metabolische Theorien, Entzündungstheorien – etwas Wahres ist wohl an jeder, aber keine ist komplett erklärend.

Von 14 bis 16 Uhr beantworten heute drei Expertinnen Leserfragen am Servicetelefon: Wie äußert sich eine demenzielle Erkrankung? Worauf kommt es bei der Betreuung der Erkrankten an? Welche

finanzielle Unterstützung gibt es durch die Pflegekassen?

Experten am Telefon:

02 21/ 777 003 2851Gerta Becker, Expertin für Demenz bei der Compass-Pflegeberatung

02 21/ 777 003 2852Sigrid Steimel, Gerontopsychiatrisches Beratungszentrum Köln, LVR

02 21/ 777 003 2853Gabriele Zander-Schneider, Autorin und Vorsitzende der Alzheimer-Selbsthilfe Köln

Bis zu 1,4 Millionen Menschen sind in Deutschland an Demenz erkrankt, Tendenz steigend. Die meisten Erkrankten werden zu Hause von ihrer Familie betreut, so lange es geht. Die Pflege eines Menschen mit Demenz ist sehr anspruchsvoll. Über die Symptome und Stadien demenzieller Erkrankungen sollten sich Angehörige informieren – um zu wissen, was auf sie zukommt und welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt.

Was ursächlich ist, was Folge, was protektiv, wissen wir nicht“, sagt Arendt. Die Fortschritte der Forschung – in jüngster Vergangenheit etwa, dass sich Tau-Fibrillen und Amyloid-Peptide über einen ähnlichen Mechanismus im Gehirn verbreiten wie Prionenerkrankungen wie Creutzfeldt-Jakob, vermutlich, weil diese Proteine eine Rolle bei der Entwicklung des Hirns spielen – betreffen meist nur einzelne Vorgänge innerhalb der Zellen. Aber sie tragen Stück für Stück dazu bei, das Gehirn – und die Alzheimer-Demenz – besser zu verstehen.

Das Rätsel der Plaques

So vermutet man heute, dass die Beta-Amyloid-Plaques, ein zentrales Merkmal von Alzheimer, nicht Ursache der Erkrankung und ihrer Symptome, sondern eher Begleiterscheinung ist. Dazu hat paradoxerweise die fehlgeschlagene Medikamentenentwicklung beigetragen: „Ein Großteil der neuen Medikamente versucht, die Bildung von Plaques zu verhindern oder sie aufzulösen. Das funktioniert auch – allerdings verbessert das den Zustand der Kranken nicht. Die Plaques anzugehen, scheint so zu sein, als würde man die Feuerwehrleute neben einem abgebrannten Haus als Brandverursacher verhaften“, sagt Thomas Arendt. Ob die Substanzen die Erkrankung verzögern, wenn sie früh eingesetzt werden, werden Studien erst in ein paar Jahren zeigen.

Die Tau-Fibrillen wiederum könnten Reste eines Mechanismus sein, der das Gehirn in Zeiten niedriger Aktivität schützen soll – sie finden sich auch in den Gehirnen von Tieren, die Winterschlaf halten. Womöglich läuft dieser Mechanismus bei Alzheimer aus dem Ruder – was das auslöst, ist unklar.

Therapie der Heilung nicht in Aussicht

Einig sind sich alle: Eine Therapie, die die Erkrankung heilt oder völlig verhindert, ist vorerst nicht in greifbarer Nähe. Die einzige zurzeit erhältliche Therapie, die an einem Mechanismus der Krankheit ansetzt, sind Acetylcholinesterasehemmstoffe. Sie helfen, den Botenstoff Acetylcholin länger nutzbar zu halten, da die Zellen, die ihn produzieren, früh im Krankheitsverlauf absterben. „Das kann den Verlauf der Krankheit um ein Jahr verzögern – bei alten Menschen ist das viel wert“, sagt Jessen. In einem anderen Punkt herrscht ebenfalls Einvernehmen, selbst mit Autoren wie Michael Nehls (siehe Interview): Es gibt Möglichkeiten, Alzheimer vorzubeugen. Präventiv wirken dagegen eine gesunde Ernährung mit viel Obst, Gemüse und Fisch, die ungesättigte Fettsäuren und Antioxidantien liefert, und geistige Aktivität. Körperliche Aktivität wirkt nicht nur als Schutzfaktor, sondern kann die kognitiven Fähigkeiten womöglich sogar wieder verbessern. Als Risikofaktoren gelten dagegen Diabetes, Bluthochdruck im mittleren Alter, Übergewicht im mittleren Alter, Bewegungsmangel, Depression, Rauchen und ein niedriger Bildungsabschluss.

Auffällig ist vor allem der Zusammenhang zwischen Gefäßkrankheiten und Alzheimer, sagt Frank Jessen: „Eine Hypothese ist: Eine Schädigung der Gefäße hemmt den Abbau schädlicher Substanzen im Gehirn. Das trägt womöglich zur Entstehung von Alzheimer bei. Belegt ist das nicht – aber es würde erklären, warum das, was die Blutgefäße schützt, auch vor Alzheimer schützt.“

Prävention ab 40 Jahren

Das bedeutet auch: Die Prävention muss früh beginnen – bevor Gefäße und Hirnzellen Schaden nehmen. „Spätestens ab dem 40. Lebensjahr kann man an den Stellschrauben drehen – indem man auf den Blutdruck, den Blutzucker, die Cholesterinwerte achten; und darauf, sich genug zu bewegen“, sagt Jessen. Eine kritische Phase sei die Pensionierung: „Da gibt es oft einen plötzlichen Wegfall von Aktivität, geistiger Aktivierung und sozialen Kontakten – dem muss man gezielt gegensteuern“. Engagement helfe auch, das Gehirn weiter zu fordern. Im hohen Alter falle es schwerer, sei aber umso wichtiger, sich trotz Verlusten von Freunden und Angehörigen integriert und interessiert zu halten. „Es gibt in jeder Lebensphase Möglichkeiten, dem Gehirn etwas Gutes zu tun und es so zu schützen“, sagt der Forscher.

Alzheimer-Kranken-Zahlen senken

Garantierten Schutz bedeutet das nicht: Eine im Medizin-Journal „Lancet“ erschienene Meta-Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass rund ein Drittel der Alzheimer-Fälle weltweit auf die oben beschriebenen beeinflussbaren Risikofaktoren zurückzuführen ist. Gelänge es, diese pro Jahrzehnt um jeweils zehn Prozent zu verringern, so die Forscher um Sam Norton, könnte sich die Gesamtzahl der Alzheimer-Kranken bis 2050 um 8,3 Prozent senken lassen.

Dass es nicht mehr sind, hängt damit zusammen, dass wir, egal, wie gesund wir leben, älter werden, erklärt Jessen: „Mit dem Alter funktionieren viele Mechanismen nicht mehr richtig. Auch die Reinigung des Gehirns von Ablagerungen: Das Gefäßbett wird schwächer, und so sammelt sich immer mehr an, und die Fähigkeit des Gehirns dagegenzuhalten nimmt ab.“ Dagegen könnten irgendwann auch die Schutzeffekte nichts mehr ausrichten. Deshalb ist das Alter der stärkste Risikofaktor für die Alzheimer-Demenz.

Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass sie eine normale Folge des Alters ist. Demenzerkrankungen – also nicht nur Alzheimer – betreffen zwar etwa 40 Prozent der über 90-Jährigen, das heißt aber: 60 Prozent der Hochaltrigen haben keine Form von Demenz. Und: Die Zahl der Erkrankten nimmt nicht deshalb zu, weil die Krankheit häufiger wird, sondern, weil es insgesamt mehr alte Menschen gibt. Die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft verweist sogar auf einzelne Studien, denen zufolge die Erkrankungswahrscheinlichkeit aufgrund höherer Bildung, gesünderer Ernährung, mehr Aktivität und der Behandlung von Herzkreislauferkrankungen sogar sinken könnte. Das würde bedeuten, dass das Risiko für den Einzelnen geringer wird – die Zahl der Demenzkranken wird aufgrund des demografischen Wandels dennoch weiter wachsen. Darauf werden sich, solange keine Therapie gefunden ist, nicht nur Pflegekassen und Gesundheitssystem, sondern die gesamte Gesellschaft einstellen müssen.

Die Alzheimer Forschung Initiative und die Hirnliga informieren zum Stand der Forschung:

www.alzheimer-forschung.de

hirnliga.de