Zentrum in MarburgUnerkannten Krankheiten auf der Spur

Auch mit unerklärlichen Rückenschmerzen wenden sich Patienten an die Uniklinik Marburg und das Team um Professor Schäfer. (Foto: dpa)
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Professor Jürgen Schäfer leitet das Zentrum für unerkannte Krankheiten an der Uniklinik Marburg. Angela Stoll sprach mit ihm über seine ungewöhnlichsten Fälle und sein Serien-Alter-Ego Dr. House.
Professor Schäfer, in der US-Serie "Dr. House", die seit vergangener Woche wieder im deutschen TV läuft, löst der Titelheld in jeder Folge schwierige medizinische Fälle. Sie werden der deutsche Dr. House genannt. Gefällt Ihnen das?
Auf der persönlichen Ebene nicht allzu sehr. Dr. House ist zynisch und arrogant und wäre im wahren Leben schon in der Probezeit seinen Job losgeworden. Rein fachlich ist er aber brillant und beißt sich wie ein Bullterrier fest, bis er die Fälle gelöst hat. In dieser Hinsicht nehme ich es als Kompliment.
Als Patient wünscht man sich eigentlich keinen miesepetrigen Dr. House.
Möchte man lieber einen Professor Brinkmann von der Schwarzwaldklinik auf der Bettkante sitzen haben, der einem die Hand hält, während man stirbt? Wenn man die Wahl hätte, würde man sich wohl eher für Dr. House entscheiden. Er ist zwar unfreundlich, kriegt einen aber gesund.
Am Zentrum für unerkannte Krankheiten an der Uniklinik Marburg haben es Jürgen Schäfer und sein Team immer wieder mit Patienten zu tun, die unter unerklärlichen Beschwerden leiden. Im vergangenen Jahr waren darunter etwa diese rätselhaften Fälle:
Müdigkeit, Knochenschmerzen, Durchfall: Ein Mann mit diesen Symptomen wird von Arzt zu Arzt geschickt, ohne dass ihm geholfen werden kann. Im Gespräch findet das Marburger Team heraus, dass der Patient eine säurefreie Diät macht. Er verzichtet dabei auch auf Ascorbinsäure - nämlich auf Vitamin C. Deshalb zeigt sich bei ihm die Vitaminmangelkrankheit Skorbut, die in Deutschland normalerweise nicht mehr vorkommt.
Ein junger Mann gilt als magersüchtig. Er ist tatsächlich extrem dünn und hat eine leichte Verkrümmung der Wirbelsäule. Das Marburger Team entdeckt aber auch, dass er auffällige Muttermale an der Hand sowie eine Art von Schwimmhäutchen zwischen den Fingern hat. Über eine Internet-Recherche finden die Ärzte heraus, dass der Patient an dem extrem seltenen Friedman-Goodman-Syndrom leidet.
Ein Patient hat arge Schmerzen auf der Haut und in den Gelenken. Der Hausarzt tippt auf Gürtelrose und überweist zum Hautarzt. Dieser findet aber nichts und reicht den Patienten an den Neurologen weiter. Auch der weiß nicht weiter. Schäfer und sein Team befragen den Mann nach seinen Gewohnheiten und erfahren, dass er regelmäßig durch Wald und Wiesen joggt und schon oft Zeckenstiche hatte. Die Ärzte tippen auf Borreliose - was sich bei weiteren Untersuchungen bestätigt.
Eine Frau leidet an schwerer Atemnot und wird erfolglos wegen eines angeblichen Herzleidens behandelt. Jürgen Schäfer und sein Team finden heraus, dass sie eine Papageien-Allergie hat. Auf die Spur führte sie eine richtige Frage. Der niedergelassene Lungenfacharzt hatte gefragt: "Haben Sie einen Wellensittich oder Papagei?" Die Patientin antwortete wahrheitsgemäß mit "nein". In Marburg wurde sie gefragt: "Haben Sie Kontakt zu einem Wellensittich oder Papagei?" Ihre Antwort lautete "ja". Die Lösung: Die Tochter, die von der Frau täglich besucht wird, hatte einen Papagei. (as)
Sind Sie eigentlich Fan der Serie?
Ich schaue die Sendung gerne. Die Drehbuchautoren haben verstanden, dass Medizin spannend wie ein Krimi sein kann. Es geht um Leben und Tod und darum, das richtige Indiz für die Lösung zu finden. Ich nutze sogar "Dr. House"-Folgen für meinen Studentenunterricht.
Stimmt es, dass Ihnen die Serie in einem Fall geholfen hat, auf die richtige Spur zu kommen?
Das stimmt. Allerdings hätten wir den Fall auch so gelöst, aber vielleicht nicht ganz so schnell. Der Patient war wenige Monate nach einer Hüftkopf-Operation blind und taub geworden, sein Herz arbeitete immer schwächer und man dachte bereits an eine Transplantation. Vor der Hüft-OP, bei der ihm eine Prothese aus Metall eingesetzt worden war, war er ein fitter und erfolgreicher Unternehmer gewesen. Wie der Zufall will, hatte ich kurz zuvor bei einem "Dr. House"-Seminar für unsere Studenten das Thema Metallvergiftung durch Hüftprothesen besprochen - das war die Lösung.
Auch anderen Patienten mit unklaren Symptomen haben Sie und Ihr Team helfen können. Was machen Sie anders?
Auch wir kochen nur mit Wasser. Wichtig für unsere Diagnostik ist vor allem die Teamarbeit. Einmal in der Woche treffen wir uns mit erfahrenen Experten und jungen Kollegen aus ganz verschiedenen Fachrichtungen. Wir diskutieren jeden Fall gemeinsam. Das ist so eine Art Brainstorming. Auf diese Weise haben wir schon einige spannende Lösungen gefunden.
Zum Beispiel?
Manchmal sind es lapidare Dinge. Ein Patient kam wegen unerklärlicher Rückenschmerzen. Er war beim Hausarzt, Orthopäden, Radiologen, Neurochirurgen und beim Physiotherapeuten gewesen. Wir fragten den Mann, wann die Schmerzen auftreten. Weil das nur nachts war, rieten wir ihm, seine durchgelegene Matratze auszutauschen. Damit war das Problem gelöst.
Sie stellen also die einfachen Fragen.
Oft haben wir es aber auch mit seltenen Krankheiten zu tun, denen nicht so leicht beizukommen ist. Wir hatten zum Beispiel mal einen Patienten mit einem extrem hohen Blutdruck, der minderwüchsig ist und zudem sehr kurze Finger hat. Der Mann erzählte, dass auch sein Vater kurze Finger und Probleme mit hohem Blutdruck habe. Wir kamen darauf, dass er am sogenannten Brachydaktylie-Short Stature-Hypertension-Syndrom leidet. Im Nachhinein auch eine einfache Diagnose - wenngleich es eine sehr seltene genetische Erkrankung ist.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie es mit einem neuen Patienten zu tun haben?
Wir versuchen, durch einen ausführlichen Fragebogen möglichst viel über die Vorgeschichte zu erfahren. Dann überlegen wir, welche Anregungen wir seinen Ärzten vor Ort geben können. Es geht uns um eine heimatnahe Versorgung der Patienten. Nur einen kleinen Teil bestellen wir zu uns nach Marburg ein.
Wie groß ist das Interesse?
Wir werden regelrecht überrannt. Die Masse der Anfragen ist erschreckend. Uns wurden schon Tausende von Unterlagen aus ganz Deutschland unaufgefordert zugesandt. Dahinter stecken viele bewegende Geschichten, viele furchtbare Schicksale. Durch den Vergleich mit Dr. House wenden sich viele Patienten mit der Hoffnung an uns, dass wir die Lösung finden, was uns häufig auch gelingt.
Warum tappen Ärzte denn so oft im Dunkeln?
Das würde ich gar nicht so sagen. Ich bin überzeugt, dass der Großteil der Patienten richtig diagnostiziert wird. Aber wenn auch nur ein geringer Promille-Anteil der Krankheiten mit den üblichen Methoden nicht erkannt wird, kommt da schon eine große Zahl zusammen. Der Ansturm, den wir erleben, zeigt, dass viele Patienten keine Anlaufstelle finden.
Wie ließe sich das ändern?
Wir brauchen eine flächendeckende Struktur. An vielen Universitätskliniken gibt es bereits hervorragende Zentren für seltene Erkrankungen. Um flächendeckende Angebote für solche Patienten zu schaffen, müsste aber noch mehr getan werden. Letztlich würde ich mir wünschen, dass solche Zentren an allen Unikliniken eingerichtet werden.
Manchmal wird man wegen eines falschen Verdachts an einen Facharzt überwiesen, der dann das eigentliche Problem verkennt. Ist die Spezialisierung ein Problem?
Ja, das mag manchmal so sein. Ein hochspezialisierter Facharzt wird kaum die gesamte Breite der Medizin abdecken. Wir haben heute aber auch ein großes Potenzial durch eine vernetzte EDV. Früher habe ich mich durch dicke Bücher quälen müssen, um einer Erkrankung auf die Spur zu kommen. Heute gibt man die Symptome in eine Internet-Datenbank ein und bekommt sofort eine Liste mit den infrage kommenden Syndromen. Vor kurzem hatte ich meinen Studenten die Aufgabe gestellt, ein Syndrom zu den Stichworten "fehlendes Fettgewebe" und "Diabetes" zu finden. Sie brauchten 15 Minuten, um auf das Köbberling-Dunnigan-Syndrom zu kommen und erklärten mir anschließend freudestrahlend: Sie haben dazu ja auch schon publiziert! Ich hatte damals Wochen gebraucht, um diese Diagnose zu stellen.